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Kulturgeschichte des Zahnschmerzes – Teil 3


Prof. Cengiz Koçkapan

Seit Urzeiten haben Zahnschmerzen die Menschen furchtbar geplagt und gequält. Die mangelhaften Kenntnisse über die Ursache der Zahnschmerzen sowie die sehr eingeschränkten Behandlungsmöglichkeiten bedingten damals oft einen langen Leidensweg für die betroffenen Menschen.

Im Laufe der Zeit wurden zahlreiche unsinnige und aberwitzige Therapien zur Linderung der Zahnschmerzen vorgeschlagen, von denen einige im folgenden Artikel präsentiert werden.

Die Geschichte des Zahnschmerzes ist so alt wie die Geschichte der Menschheit. Und es ist einiges besonders an diesem Schmerz – seine alles andere in den Hintergrund drängende Intensität, sein Status als Symptom für eine der häufigsten Todesursachen im Mittelalter und seine einfache, aber brachiale Behandlung durch Extraktion mehrten die Faszination für die „Auslöser“ Zähne und führten zu einer stattlichen Sammlung von Mythen und Fakten. Diese hat unser Autor Prof. Cengiz Koçkapan in einer mehrteiligen Serie für die Zeitschrift Endodontie aufbereitet, die wir in lockerer Folge auf Quintessenz News veröffentlichen. Im dritten Teil geht es um die ersten Therapien gegen Zahnschmerzen, die ohne die modernen Errungenschaften der Anästhesie und Hygiene eher phantasievoll als effizient zu werten sind.


Weitere Teile


Teil 1: Bart und Zahnschmerz
Teil 2: Holunder und Zahnschmerz


Man verwünschte vielleicht deshalb einen ungeliebten Menschen: „Zahnweh sollst du kriegen!“ Ein jüdischer Fluch lautet1: „Soll’n dir ausfallen alle Zähne bis auf einen: für Zahnweh.“ Mancher litt monatelang an Zahnschmerzen, bis er letztendlich zum Barbier lief und sich dort auf den Stuhl setzte. Wenn der Barbier seine Marterinstrumente wie Zahnschlüssel und Zangen herausholte, waren die Schmerzen wie weggeblasen und der Patient suchte schmerzfrei schnell das Weite. Der Schmerz kam aber gewiss sehr bald wieder. Allerdings verlangten die „Roß­curen“ des Zahnschmerzes von den Menschen auch ein hohes Maß an Duldsamkeit und Leidensfähigkeit2.

Fast jede zahnärztliche Maßnahme tangiert das endodontische System, und jährlich ca. zehn Millionen in Deutschland durchgeführte Wurzelkanalbehandlungen belegen den Stellenwert der Endodontie in der Zahnmedizin. Die Zeitschrift „Endodontie“ hält ihre Leser dazu „up to date“. Sie erscheint vier Mal im Jahr und bietet praxisrelevante Themen in Übersichtsartikeln, klinischen Fallschilderungen und wissenschaftlichen Studien. Auch neue Techniken und Materialien werden vorgestellt. Schwerpunkthefte zu praxisrelevanten Themen informieren detailliert über aktuelle Trends und ermöglichen eine umfassende Fortbildung. Die „Endodontie“ ist offizielle Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET), des Verbandes Deutscher Zertifizierter Endodontologen (VDZE) und der Österreichischen Gesellschaft für Endodontie (ÖGE). Abonnenten erhalten kostenlosen Zugang zur Online-Version (rückwirkend ab 2003 im Archiv) und zur App-Version. Mehr Informationen zur Zeitschrift, zum Abonnement und kostenlosen Probeexemplaren im Quintessenz-Shop.


In ihrer Not legten die Betroffenen die frische Rinde des Walnussbaumes (Juglans regia) mit ihrer Bastseite oder die Leber der gemeinen Schleiche auf die Wange oder sie rauchten gebrannten Kaffee als Tabak (dies wurde am linken Ufer des Niederrheins und in Westfalen zelebriert)3. Gegen Zahnschmerzen gab es eine schier unerschöpfliche Reihe von Mitteln, von rationellen bis zu den widersinnigsten, von welchen manche ziemlich ekelerregend waren4. Man denke dabei an viele Mittel aus der „Dreckapotheke“; bei den Pennsylvaniadeutschen herrschte zum Beispiel der Aberglaube, dass das Abbeißen vom Hundekot eines weißen Hundes gegen Zahnschmerzen helfe (Fer zåw˜eˉ beiss en weisser hunns`gnodl ab)5. 

Es gehört zu den größten Albernheiten, bei heftigem Zahnweh dreimal Anasageus zu sagen, den schmerzhaften Zahn mit einem Nagel zu berühren und diesen neben einem Taufstein in den Boden zu stecken6. Man übte auch grausame Praktiken aus, um sich vor Zahnschmerzen zu schützen: Wer nach einer Empfehlung aus dem 18. Jahrhundert die rechte Pfote eines noch lebenden Maulwurfs abriss und als Amulett trug, musste danach kein Zahnweh mehr fürchten7. In Bayern und Böhmen wurde empfohlen8,9: „Um sich vom Zahnweh zu helfen, jage man eine Katze so lange über geackerte Felder, aber immer quer über, bis sie zwischen den Beinen schwitzt, mit dem Schweiße bestreiche man den kranken Zahn und der Schmerz ist für immer vorüber.“ Der Glaube in die Heilkraft derart absurder Therapievorschläge war offenbar begrenzt: Ein deutsches Sprichwort lautet: „Für Jesuiten, Wanzen, Ratten und Zahnschmerzen gibt’s hundert Mittel, die nichts helfen.“

Heißes Wasser gegen Zahnschmerz

In den meisten Fällen erwecken die Bilder der unter Zahnschmerzen leidenden Menschen eher Spott als Mitleid10 (Abb. 1). Man gab dem Leidenden gute Ratschläge wie: „Am besten, du setzt dich auf den heißen Herd und nimmst einen Schluck Wasser in den Mund. Du wirst sehen, wenn das Wasser zu sieden anfängt, dann hast du das Zahnweh vergessen!“11. In der Zeitschrift „Fliegende Blätter“ machte man sich über den Leidenden lustig und empfahl (Abb. 2): „Man nimmt auf die Seite des Mundes, wo sich der Schmerz befindet, frisches kaltes Wasser und setzt sich auf einen kleinen gutgeheizten Circulirofen. Sobald das Wasser zum Sieden kommt, ist der Schmerz weg.“ Middleton12 stellte die Gebräuche der Bewohner von Adams County/Illinois gegen Zahnschmerzen zusammen und lieferte eine ähnliche Empfehlung: „Wenn du Zahnschmerzen hast, nehme Wasser in den Mund und setze dich auf einen Ofen bis das Wasser kocht. Dies wird die Zahnschmerzen stillen.“ In der Zeitschrift „Punch“ machte man sich lustig über leichtgläubige Leute (Abb. 3): „Es gibt Menschen, die immer alles tun, was ihnen gesagt wird und wir haben keinen Zweifel daran, dass, wenn einem Gentleman mit Zahnschmerzen in einem opportunen Zeitpunkt empfohlen wird, er solle ein wenig kaltes Wasser in den Mund nehmen und sich solange auf das Kochfeld setzen, bis das Wasser im Mund kocht; er wird es tun. Es gebe viele, die hören darauf, dass der Rauch desinfizierend wirkt, und sind bereit den ganzen Nachmittag an einem Schornstein zu verbringen.“

Ähnliche Kuren, die in das Gebiet des Volkshumors gehören, beschreibt Kobusch13: „Gegen Zahn­weh. Setze dich auf den Herd und nimm Wasser in den Mund und bleib solange auf dem Herd sitzen bis das Wasser siedet; dann ist das Zahnweh auch gut“. Oder: „Kaltes Wasser in den Mund nehmen, sich auf einen Stein setzen und solang darin behalten, bis es siedet — dann ist der Zahnschmerz gut (Eichkogl)“14. Auch in der Zeitschrift „Kikeriki“ vom 6. Januar 1929 liest man eine ähnliche Empfehlung15: „Probatum est: Ein sicheres Mittel gegen Zahnschmerz geben wir im folgenden: Man nehme kaltes Wasser in den Mund, setze sich auf die Platte eines gut beheizten Ofens und bleibe solange sitzen, bis das Wasser siedet. Dann ist der Zahnschmerz für immer fort.“ Eine humorige Empfehlung finden wir im Wossidlo-Archiv: „Gegen Zahnschmerzen: Koll Water in’t Maul nähmen, up’t (unleserlich) sitten gahn, bet Water kolt.“

Dampfbehandlung der Zahnschmerzen

Die Vorstellung, dass die Zahnschmerzen durch Würmer und Flüssigkeiten ausgelöst werden, hatte früher die meisten Anhänger. Eine schädliche Materie aus dem Kopf fließe in die Zähne und verursache Zahnschmerzen. Bereits im 18. Jahrhundert versuchte man diesen Fluss durch Wasserdampf herauszubekommen, der an das Gesicht und den Mund gelassen wurde und die Zahnschmerzen stillen sollte16: „Man nahm ohngefähr zwo Kannen frisches reines Brunnenwasser, und kochte es in einer verzinnten Pfanne, setzte es hernach in einem tiefen Gefässe auf einen Stuhl, vor welchen sich der Kranke setzte, den Mund weit aufthat, und den Kopf ganz nieder über das Faß beugte. Ueber seinen Kopf und Hals und das Faß ward ein Tuch gedeckt, damit der Wasserdampf den Mund des Kranken nicht verfehlte. Das Gesicht triefte sogleich von Schweiße, der schmerzhafte Zahn fühlte sich ganz kalt an, und es lief aus ihm und aus dem Munde viel Wasser, wovon nichts verschlungen, auch der Mund nicht verschlossen werden durfte. Nachdem diese Operation eine Viertelstunde gedauert hatte, trocknete man den Schweiß wohl ab, band ein Tuch um das Kinn und den Mund, daß die Kälte nicht zu geschwind hineindringen konnte, und so war die Cur vollbracht. Das Schwitzen und der Speichelfluß, und der erweichende Wasserdampf, bewerkstelligen dieselbe, und sie ist zu wiederholtenmasen bewährt erfunden worden.“


Abb. 4 Steam Dentist. Aus: Ambler 1900.

Ambler17 berichtete über einen Zahnarzt, der die Zahnschmerzen mit Wasserdampf behandelte (Abb. 4): „Auf meinem Weg flußaufwärts kam ich zu einem Ort gegenüber von Louisville, wo ich einen Wanderzahnarzt traf. Er hatte einen kleinen Ofen und einen Kocher. Ein flexibles Rohr war mit dem Kocher verbunden. Wenn sich ein Patient mit Zahnschmerzen vorstellte oder mit dem Wunsch zu ihm kam, den „Zahnnerv“ zu entfernen, wurde das Rohr in die Mundhöhle eingeführt, vorher warf er irgendeine Wurzel oder Kräuter mit Knoblauchgeschmack in den Kocher. Der Ofen wurde geheizt. Puff puff! kam der Dampf, mit einem Gezisch erfolgte die Nervenbehandlung – alles ohne Schmerzen.“

Kopfschütteln gegen Zahnschmerzen

Einen wohl eher ironisch gemeinten Rat gegen Zahnschmerzen erteilt das „Eisenbergische Nachrichtsblatt für Unterhaltung und gemeinnütziges Wirken“ 1845: „Man nimmt den Mund voll süßen Rahm und schüttelt den Kopf so lange, bis er (der Rahm nämlich) zu Butter wird. Der Schmerz soll nie wiederkehren.“ Auch in der österreichischen Zeitschrift „Der Humorist“ vom 21. Juli 1845 liest man den gleichen Bericht. Interessant ist eine Publikation aus dem Jahr 1954, in der über dieselbe Methode berichtet wird. Auf diesem Wege sollen die Zahnschmerzen in drei von vier Fällen auf Dauer gelindert worden sein18. 

Müllers Mehl gegen Zahnschmerzen

Ein anderes Rezept aus Eichkogl enthält eine ironische Neckerei13: „Gegen Zahnweh ist das schwarze Brod gut; oder auch einen Teig auflegen vom Müller seinem eigenen Mehl; oder ein Brot essen von des Müllers eigenem Mehl.“ Die Ironie liegt darin, dass eine „Arznei“ verordnet wird, die nicht zu bekommen ist oder angeblich nicht zu haben sein soll. Nach Meinung des Volkshumors versorgt sich nämlich der Müller stets aus den Mehlvorräten seiner Kunden, er stiehlt sich seinen Bedarf zusammen, er baut gar nach Meinung mancher Leute kein Getreide an13.

Anbinden eines Hundes gegen Zahnschmerzen


Abb. 5 Mittel gegen Zahnschmerzen. Aus: „Fliegende ­Blätter“ 1848;9:45.

Ferner wurden auch dadurch, dass man Hunde auf die leidende Stelle auflegte oder sie im Bett neben sich schlafen ließ, die Krankheiten auf dieselben übertragen. Gegen die quälende Kolik legte man einen Hund auf den Leib, die Kolik hörte bei dem Menschen auf, der Hund aber bekam dieselbe19. Um die Zahnschmerzen von einem Menschen auf einen Hund zu übertragen, solle man einen Hund auf die Backen binden19: „Eine Person, die heftige Zahnschmerzen hatte, wurde davon befreit, indem sie einen Hund an den Backen liegen ließ.“ Von Feldeck20 berichtet über einen anderen Fall: „Eine Magd, welche hefftige Zahn-Schmertzen empfunden, ist davon befreyet worden, da sie einen Hund auf den Backen liegen lassen. Es hat aber derselbe nachhero mit seinen Gebärden, Geschrey und Winseln kund gethan, daß diese Kranckheit in ihn gefahren.“ Auch tierische Wärme soll gegen Zahnschmerzen helfen. Man findet in der Zeitschrift „Fliegende Blätter“ eine Zeichnung (Abb. 5) mit dem folgenden Hinweis: „Als probates Mittel gegen Zahnschmerzen dürfte die thierische Wärme, auf diese Art angewendet, bestens empfohlen werden.“

Abschießen des schmerzenden Zahnes

Es gibt ein Volkslied, in dem der Doktor Johann Andreas Eisenbart (1663–1727) lächerlich gemacht wurde. Es war wohl schon zu Lebzeiten gedichtet, einige andere Verse dieser Dichtung nach Peters21 stammen aber aus Zeiten nach seinem Tod. Das ganze Lied erinnert nach Peters21 auch an den Text eines im Germanischen Museum (Nürnberg) befindlichen Flugblatts, welches schon vor der Geburt des Doktors Eisenbart in der Mitte des 17. Jahrhunderts gedruckt wurde. Auf demselben wurde ein fantastischer Wunderdoktor verhöhnt, welcher sich damit befasste, Irrsinnige vom Wahnsinn dadurch zu heilen, dass er denselben aus dem Kopfe die Würmer, Mücken und Hasen herausschnitt oder abdestillierte: 

„Ich bin der Doktor Eisenbarth

willewillewitt, bumbum!

kurier die Leut´ nach meiner Art

willewillewitt, bumbum!

Zu Wien kuriert‘ ich einen Mann,

Der hatte einen hohlen Zahn,

Ich schoß ihn ‚raus mit dem Pistol,

Ach Gott, wie ist dem Mann so wohl!“

In einem Einzeldruck des Liedes „Der Doktor Eisenbarth“ aus dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts findet man eine andere Variation des Gedichts22:

„Es hat einmal ein alter Mann

Im Rachen einen hohlen Zahn,

Ich schoß ihn raus mit dem Pistol,

Ach Gott! wie ist dem Mann so wohl …“

Die Kur des Eisenbarts bestand bekanntlich darin, dass er bei Zahnschmerzen den faulen Zahn mit der Pistole aus dem Mund herausschoss. In der Zeitung „Der Zeitgeist“ vom 5. August 1875 und in der „Süddeutschen Reichspost“ vom 1. August 1875 liest man Folgendes: „(A la Eisenbart.) In unserer Gegend (…) besteht der Glaube, daß das Abschießen eines Gewehrs oder einer Pistole ein Mittel zur Beseitigung der Zahnschmerzen, des Knochenfraßes und ähnlicher Leiden sei. Ein Mann im Marienfelde wollte neulich die Heilkraft dieses Mittels versuchen; er hatte Zahnweh, und um dasselbe zu vertreiben, nahm er eine Pistole und schoß sie an dem kranken Kopfteile ab. Der Schuß fiel, aber auch der Mann. Er hatte die Pistole nicht richtig gehalten, denn die Schrotladung war ihm tief in’s Gehirn gedrungen; in kurzer Zeit war er eine Leiche.“ 

Im 18. Jahrhundert hatte der Londoner Arzt Messenger Monsey (1694–1788) eine erfolgreiche und modische Praxis und setzte eine sehr auffällige Methode zum Entfernen der Zähne ein. Nachdem sich der Patient auf den Behandlungsstuhl gesetzt hatte, band er um den Zahnhals einen Catgut­faden, das andere Ende befestigte er in einer gelochten Bleikugel. Die Kugel wurde dann in den Lauf einer Steinschlosspistole platziert. Dann richtete er die Pistole in die Richtung des offenen Fensters und feuerte in einem günstigen Moment ab. Wenn sich der Patient während der vorbereitenden Maßnahmen beklagte oder meinte, er wolle den Zahn doch behalten, schimpfte der Doktor ihn als Feigling und feuerte trotzdem ab23.


Abb. 6 To blow out a tooth. Aus: Ambler 1900.

Ambler17 erzählte eine ähnliche Geschichte über „gunshot Dentistry“. Ein Mann im Westen der USA machte eine Erfindung, die er „Painless Tooth Extractor“ nannte (Abb. 6). Sie bestand aus einer kleinen Donnerbüchse, deren Kugel mit einer starken Schnur verbunden war. Das andere Ende der Schnur musste an dem zu entfernenden Zahn befestigt werden. Wenn man die Donnerbüchse abfeuerte, flogen Zahn und Kugel zusammen sofort ohne Schmerzen weg. Der Erfinder meinte, dass er sehr viele Zähne mit einem Schuss ohne geringste Schmerzen auf diese Weise herausgeschossen habe. 

In diesem Zusammenhang ist der „Painless Tooth Extractor“ von Rube Goldberg (1883–1970), einem US-amerikanischen Cartoonisten zu erwähnen24. Es handelt sich dabei um eine Nonsense-­Maschine, erfunden vom sogenannten Professor Lucifer G. Butts angeblich in einem wissenschaftlichen Delirium, die auf einem komplizierten Wege zum Vergnügen des Betrachters einen Zahn ausreißt. Alles nimmt seinen Lauf, als der Zahnarzt zu seinem Börsenmakler eilt und dabei seinen Gummiabsatz verliert. Der Absatz fällt in eine Schale und setzt die Maschine in Aktion. Die Teile der Maschine bestehen unter anderem aus Erdnüssen, einem Eichhörnchen und aus Limburger Käse. Am Ende der aufeinanderfolgenden Aktionen fällt plötzlich ein Gewicht herunter und der Zahn ist draußen. Gleichzeitig wird ein Glas Wasser auf das Gesicht des Patienten geschüttet, um ihn wiederzubeleben. Im Falle des Todes von Patienten stellt man schließlich die lustige Frage auf, wer schuld daran sei: Der Zahnarzt, der erst nach drei Tagen nach dem Patienten schaute, oder der Mann, der dem Zahnarzt den Limburger Käse verkaufte? 


Abb. 7 „Wie Herr Bissig seinen Backenzahn `raus kriegte“. Aus: „Puck“ 1896;21:288.

Eine ähnliche Idee hatte wohl F.M. Hohrath25 in seinem zeichnerischen Werk (Abb. 7). In dieser Kurzgeschichte wurde erzählt „wie Herr Bissig seinen Backenzahn raus kriegte“:

Herr Bissig: Die Schmerzen halt‘ der Henker aus!

Der Backenzahn muß gleich heraus;

Allein zum Zahnarzt geh‘ ich nicht,

Er band an eine Gewehrkugel seinen Zahn und schoss die Kugel ab:

Ich seh‘ schon, wie sich’s machen läßt!

An eine Kugel bind‘ ich fest

den Zahn mit einem starken Faden

um in’s Gewehr ihn dann zu laden.

Ich steh‘ allein auf weiter Flur,

giebt’s auch ein Loch in die Natur,

so fliegt dabei heraus der Zahn –

eins, zwei, drei, vier – jetzt ist’s gethan!“

Dummerweise traf die Kugel mit dem anhängenden und noch festsitzenden Zahn einen Vogel:

Ein Druck, ein Schuß, ein Lauter Schrei,

da fliegt der Vogel „Rock“ vorbei,

so groß wie er in Märchenzeiten

zu finden war in allen Breiten.

Die Kugel traf ihn in die Brust,

er ward sich dessen nicht bewußt

und flog mit Bissig himmelan –

Es saß noch immer fest der Zahn.

Der Vogel flog mit Herrn Bissig weiter, bis der Zahn herauskam und er herunterfiel:

Da plötzlich giebt es einen Krach,

Herrn Bissig’s Zahn ist `raus, und jach

gleich einem Blitz saust Bissig nieder

und schließt vor Angst die Augenlider.

Er seufzet: „Solche Rutschpartie

macht‘ ich in meinem Leben nie –

der Fels zerschmetter mich zu Brei!“

Das sagt der Zahnarzt: „`S ist vorbei.

Diese Gedanken hatte er auf dem Behandlungsstuhl, als der Zahnarzt ihm einen Zahn unter Lachgasanästhesie extrahierte:

Im Anfang wirkte nicht das Gas,

der Zahn saß fest, es war kein Spaß;

ich zog – Sie strampelten und schnauften,

als ob Sie mit dem Teufel rauften.“


Abb. 8 Need a dentist. Aus: Ambler 1900.

Eine weitere Geschichte ging folgendermaßen17: In einer Stadt in den USA war der Schmied Sam Haynes der einzige Zahnarzt. Wenn er sehr stark betrunken war, mussten die Leidenden bis zu seiner Ausnüchterung warten. Eines guten Tages hatte Ben Taylor Zahnschmerzen zum Verrücktwerden. Er gab seine Pistole dem Reub Jackson und bat, ihm den Zahn wegzuschießen. Reub hatte ein nächtliches Zechgelage hinter sich und deshalb zittrige Hände. Als Ergebnis schoss er zwei perfekt gesunde Molaren und auch die Zungenspitze von Taylor weg (Abb. 8).

Am 20. Juni 1977 wurde im „Moneysworth“ über Ernesto Erosa, einen Farmer aus Uruguay, berichtet, der seinen schmerzenden Zahn mit einer Pistole vom Kaliber 22 wegschoss. Die Verantwortlichen des Krankenhauses von Salto, einer Stadt 300 km nordwestlich von Montevideo, berichteten, dass sich der Patient von den Folgen des Pistolenschusses erholen werde. Allerdings habe er nicht nur seinen schmerzenden Zahn weggeschossen, sondern auch sein Zahnfleisch, seine Unterlippe und seinen Kiefer zerstört26.

In dem humoristischen Roman „Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel“ aus dem Jahr 1912 von Alice Berend (1875–1938) erhielt die Hauptfigur eine ähnliche Empfehlung27:

„(…) Einige ungewöhnlich schwere Tage brachen über ihn herein, als ihn, trotz seines vorsichtigen und behutsamen Lebenswandels, heftiges Zahnweh befiel. So entsetzlich heftig, daß er fürchtete, zum Zahnarzt gehen zu müssen (…) Sebastian schauderte. Er wollte überhaupt nicht zum Zahnarzt gehen. Er fragte den feinen, lebensgewandten General um Rat. Ob er denn kein Mittel gegen Zahnschmerz wisse. „Ausziehen lassen“ sagte dieser. „Das war vielleicht zu Ihrer Zeit die Sitte. Heute tut man das nicht mehr“ rief Sebastian entrüstet. „Lesen Sie doch die Anzeigen in den Zeitungen.“ „Ihr Schmerz reißt Sie hin“, sagte der andere. „Ich weiß nur ein Radikalmittel, das ein Soldat in meinem Regiment anwendete.“ „Nun?“ fragte Sebastian gespannt. „Er riß, von Schmerz gepeinigt, seine Pistole heraus und schoß den Zahn nieder.“ „Nicht möglich“ stieß Sebastian hervor. „Und das half?“ „Ja, das half gründlich. Aber bei Ihrer sehr begreiflichen Vorliebe für das Angenehme würde ich Ihnen doch raten, es erst einmal mit Kamillenumschlägen zu versuchen.“ Zorn und Zahnschmerzen bohrten und pochten in Sebastian, wütend ging er nach Haus. Er zog die Vorhänge zu und machte sich Kamillenumschläge.“ 

Absprengen des schmerzenden Zahnes

Nicht selten wurde Schießpulver zur Linderung der Zahnschmerzen verwendet. Randolph28 berichtete über Einwohner aus Ozark Country in Missouri und Alabama: „Die Bergbevölkerung habe gelegentlich versucht die Zahnschmerzen zu stillen, in dem sie die Höhlung des Zahnes mit Schießpulver ausfüllten. Sie sagten, dass es etwa eine Minute sehr schmerzhaft sei, dann bliebe der Zahn aber für mehrere Stunden schmerzfrei.“

In Russland nahm man einen Teelöffel voll feinkörnigen Schießpulvers, umwickelte dasselbe mithilfe eines Zwirnfadens mit einem Stückchen feinen dichten Batistes, sodass ein rundes Kügelchen entstand, das in den Mund gelegt und langsam gekaut wurde4. Allerdings zahlte ein Leidender manchmal einen hohen Preis für sein radikales Vorgehen mit dem Schießpulver. In der „Scientific American“ vom 31. März 1849 liest man folgende Mitteilung: „The Wheeling Times berichtet über Hochjagen eines Zahnes, was ungewöhnlich wie auch effektiv zu sein scheint. Ein Bewohner der Stadt, verzweifelt wegen Zahnschmerzen, versuchte kurz entschlossen seinen widerspenstigen Mahlzahn in die Luft zu sprengen. Er war ein riesiges Mahlwerk, hatte eine Höhlung gleich groß wie eine Gewehrtrommel. Mit Unterstützung seines Gehilfen trocknete er die Höhlung aus und füllte sie mit Schießpulver, gestopft in einem Wattebündel und mit einer rotglühenden Stricknadel zündete er die Mine. Eine sehr große Explosion fand statt. Der Kieferknochen war in zwei Teile gespalten; der schmerzende Zahn war mit drei anderen gesunden Zähnen abgerissen. Der arme Mann fand sich niederliegend auf dem Boden minus vier Zähne neben Verbrennungen am Gesicht.“

Der „Boston Daily Globe“ berichtete in seiner Ausgabe vom 11. Februar 1917 unter dem Titel „Cured his Toothache“ über einen seltenen Fall der Selbstbehandlung. Ein ehemaliger Straßenbahnschaffner hatte einen französischen Freund, der unter starken Zahnschmerzen litt. Er schaute sich den Zahn an und sah, dass dieser kariös war, und riet ihm, den Zahn entfernen zu lassen. Der Franzose fand aber wegen der späten Stunde keinen Zahnarzt und entschloss sich daher zu einer heroischen Behandlung. Er brachte Schießpulver in das große „Loch“ seines Zahnes ein, steckte als Zündschnur einen Seidenfaden hinein und stopfte das Pulver fest. Er zündete die Lunte und jagte den Zahn in die Luft. Der ehemalige Straßenbahnschaffner berichtete glaubhaft, dass der Franzose am nächsten Morgen mit einem lachenden Gesicht herunterkam. Er zeigte ihm das Loch in seinem Kiefer, das nach dem Wegsprengen seines Zahnes entstand. Alle seine Zahnschmerzen waren weg. 

Der böse Zahnwurm

Seit den Sumerern und Assyrern wird ein nagender Zahnwurm für die Zahnschmerzen verantwortlich gemacht. Man benutzte Räucherungen mit Bilsenkrautsamen, um die Würmer aus den Zähnen zu vertreiben. Schöner29 empfahl 1534 gegen die Zahnwürmer die Räucherung des schmerzenden Zahnes: „Wer würm hat iñ zeenen/d lege Pilsensamen in ein glüt/thü ein trechter darüber/vñ lasse den rauch inn mundt gehen/daruon sterben die würm/doch las den athem herwider gehen/das er nicht in dich gehe.“ Der Regensburger Prediger Jacob Christian Schäffer (1718–1790) bekämpfte als Erster den Jahrtausende alten Aberglauben vom Zahnwurm. Seine Erklärung, dass man durch erhitzte und geplatzte Samen des Bilsenkrauts und durch Pflanzenkeime die Zahnwürmer betrügerisch vorgetäuscht habe, fand langsam Glauben30. Auch heutzutage besteht der Zahnwurmglaube in Teilen der afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Länder noch immer31–33. Parry34 berichtete 2014 in ihrem Artikel mit dem Titel „The Worm that never dies“, dass Zahnwurm wie Holz­wurm anscheinend nicht auszurotten seien. Sie wies auf einen Bericht in einer ­viet­name­sischen Zeitung „Tuoi Tre“ vom 13. August 013 hin35. Dort wurde über eine Frau namens Tran Thi Dom aus dem Cai Lay Distrikt berichtet, die die Zahnwürmer mit einer Mischung aus Speiseöl und chinesischen Kräutern aus dem schmerzenden Zahn herauslockte (Abb. 9 und 10). Der kleine Junge mit Zahnschmerzen musste die Dämpfe dieser Mischung aus einer Plastikflasche einatmen und eine Minute später erschienen mehrere weiße Fäden plötzlich in der Plastikflasche, die Frau Dom als Würmer bezeichnete. Sie meinte, dass etwa zehn Würmer getötet worden seien, und verlangte für diese Behandlung nur die Kosten des verbrauchten Öls in Höhe von 10,000 VND (US$ 0,48). 

Anmerkung

Der Autor möchte sich bei Herrn Dr. Christoph ­Schmitt, Institut für Volkskunde und bei Frau Angela Ache, ehrenamtliche Mitarbeiterin im Wossidlo-­Archiv, für die Übersendung der Unterlagen herzlich bedanken.

Literatur auf Anfrage unter news@quintessenz.de


Ein Beitrag von Prof. Dr. med. dent. Cengiz Koçkapan, Radolfzell

Quelle: Endodontie, Ausgabe 3/17 Endodontie Zahnmedizin

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