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32. Symposion Praktische Kieferorthopädie diskutierte Digitalisierung – und konnte nach zweijähriger Pause endlich wieder in Präsenz im Berliner Marriott Hotel ausgerichtet werden

Impressionen des 32. Symposions Praktische Kieferorthopädie im Berliner Marriott Hotel.

(c) Björn Ludwig/Jens Bock

Weiterbildung fand während der Pandemie hauptsächlich online statt. Hat dies den Weg für eine digitale KFO (Aligner, 3-D-Druck, Onlinetermine etc.) geebnet? Welchen Stellenwert nehmen jetzt noch die „klassische“ Diagnostik und Behandlungstechniken ein? Diese und weitere Fragen wurden beim 32. Symposion Praktische Kieferorthopädie am 1. und 2. April 2022 im Berliner Marriott Hotel diskutiert. PD Dr. Björn Ludwig und Dr. Jens Bock begrüßten das Publikum besonders herzlich und freuten sich über die ausgebuchte Veranstaltung mit mehr als 360 Teilnehmenden. Besonders erfreulich war der hohe Anteil junger Zuhörerinnen und Zuhörer. Ein Pianist begleitete die Kongresstage und sorgte für eine entspannte Atmosphäre. Schon der Vorkongresskurs mit Dr. John Bennett erfreute sich großen Zuspruchs. Der Referent stellte seine neuesten Überlegungen zur kieferorthopädischen Behandlungsmechanik vor, die im aktuellen McLaughlin-Bennett-System 5.0 zusammengefasst sind. Neben vielen klinischen Tipps warf Bennett einen Blick in die Zukunft und diskutierte, was jetzt schon zu tun sei, um zukünftige Herausforderungen zu meistern.

Ex versus Non-Ex

Im ersten Vortrag stellte Prof. Dirk Wiechmann an aktuellen Patientenbeispielen Extraktionsbehandlungen mit anschließender lingualer Apparatur vor. Seiner Ansicht nach sind Extraktionsbehandlungen in erster Linie zur Behandlung von primären oder sekundären Engständen, zur dentoalveolären Kompensation einer Klasse-II- oder III-Bisslage sowie als Ausgleichsextraktion bei asymmetrischen Nichtanlagen indiziert. Seine Hauptkriterien sind die ästhetische und funktionelle Qualität des Behandlungsergebnisses, langzeitstabile Endsituationen und die Einstellung des gesamten Zahns inklusive Zahnwurzel. Dieses gelingt reproduzierbar und zuverlässig ausschließlich mit festsitzenden kieferorthopädischen Apparaturen. Eine weitere Herausforderung bei der Extraktionsbehandlung ist der Lückenschluss von der richtigen Seite. Dabei kommen, je nach Behandlungsaufgabe, intermaxilläre Gummizüge, Herbst-Apparaturen oder Minischrauben zum Einsatz, um die Verankerung wie gewünscht zu modulieren. Als Vorteile der lingualen Apparaturen nennt Wiechmann die weitgehende Unsichtbarkeit durch die linguale Lage und ein signifikant reduziertes Entkalkungsrisiko der Zähne bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen.

Im Anschluss stellte Dr. John Bennett seine Behandlungsphilosophie vor, die eher auf dem Prinzip „Less is more“ fußt. Seine gut dokumentierten Patientenfälle versah er mit vielen klinischen Tipps.

Dr. Julia Haubrich zeigte die Anwendung von Alignern des Invisalign-Systems im frühen und späten Wechselgebiss. Mögliche Indikationen sind zum Beispiel Expansionen, Protrusion der Frontzähne, Rotation der Molaren oder Distalisation. Ihr Ziel: Platz zu gewinnen ohne Extraktionen oder approximale Schmelzreduktion. Die Alignerbehandlung findet in ihrer Praxis meist in Kombination mit Funktionsreglern statt. Die Referentin befürwortet einen frühen Behandlungsbeginn, da hier Extraktionen und im Anschluss aufwendige Folgebehandlungen vermieden werden können. Wichtig ist ihr, die Compliance der Patienten durch die Pubertät hindurch aufrechtzuerhalten.

KFO im Wandel

PD Dr. Björn Ludwig stellte in seinem Beitrag Extraktion und Non-Extraktion gegenüber und beschrieb große Trends in der Kieferorthopädie. So nehmen sowohl die ästhetischen Ansprüche als auch die Komplexität des Fachgebiets in den vergangenen Jahren zu. Ludwigs Empfehlungen: Pro und Contra von Extraktion(en) an die patientenindividuelle Situation anpassen, dabei offen für atypische Schritte oder Entscheidungen sein. Sein Appell an das Publikum: „Folgt nicht allen Trends!“

Die Veranstaltung war mit 360 Teilnehmenden ausgebucht. Bild: Quintessenz
Die Veranstaltung war mit 360 Teilnehmenden ausgebucht. Bild: Quintessenz

Am Samstag erinnerte PD Dr. Daniel Hellmann zu Beginn seines Vortrags an Menschen der Ukraine: und reflektierte über Demut angesichts dieses Leidens. Thema seines Beitrags war die Funktionelle Rehabiliation – was wir über das kraniomandibuläre System wissen sollten. Hellmann postulierte, das uniforme ideale antagonistische Kontaktmuster der Zähne des Ober- und Unterkiefers sei lediglich ein Gedankenkonstrukt, das nicht den realistischen Gegebenheiten entspreche und nicht das Hauptziel einer interdisziplinären Zusammenarbeit sein sollte. Das Okklusionskonzepte dennoch erfolgreich sind, sei der enormen Adaptionsfähigkeit des stomatognathen Systems zu verdanken. Obendrein verändern sich die Gegebenheiten durch unterschiedliche Nutzung: Fast Jeder hat eine Präferenzkauleiste! Dadurch geht beim Kauen ein Gelenk exakt in den Ausgangspunkt zurück, das andere gleicht Freiheitsgrade aus. Die klinische Bedeutung: „Ein Eingriff in einen symptomlosen Status quo hat immer Einfluss auf das sensible stomatognathe System.“ Nach jedem Eingriff erfolgt eine individuell unterschiedliche Adaption an die neuen Verhältnisse.
Wichtig ist, bevor der aktuelle Status quo verändert wird, die Folgen zu bedenken, die Adaptionsfähigkeit des stomatognathen Systems durch die Behandlung nicht zu überlasten und dem Patienten ausreichend Zeit zur Anpassung einzuräumen. Praktisch rät Hellmann zur Reduktion der statischen Kontakte, zum Öffnen der Okklusion mit deutlichen interokklusalen Freiräumen und dem Erhalt des adaptierten Funktionsraums. „Das Kauorgan ist ein sich zeitlebens strukturell und funktionell adaptierendes System“, so der Referent.

Von den Zähnen zur Wirbelsäule

Dr. Wolfgang Boisserée stellte die Rolle der Okklusion in Beziehung zum menschlichen Bewegungsapparat vor. In den vergangenen Jahren beobachtet man eine steigende Komplexität der kieferorthopädischen Behandlungsfälle bei: Nichtanlage der bleibenden Zähne, Zustand nach Zahntraumata, Folgen des frühzeitigen Zahnverlusts wie Kippung der Nachbarzähne oder Elongation der Antagonisten, starkem Schmelzverlust durch Bruxismus in Kombination mit Bissfehlstellungen bei erwachsenen Patienten. Daher betonte Boisserée die Wichtigkeit, interdisziplinär mit Prothetik, Implantologie und in die Medizin hinein mit Angehörigen aus manueller Medizin und Orthopädie zusammenzuarbeiten. Seine Diagnostik beinhaltet funktionelle Analyse, ästhetische Analyse, biologische Strukturen und strukturelle Analyse. Anhand verschiedener Behandlungsfälle konnte er dem Publikum diverse Therapiemethoden und exzellente Ergebnisse der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Kieferorthopäden und Zahnärzten zeigen.
Dem Kiefergelenk und seinen Besonderheiten als Anlagerungsgelenk widmete sich Prof. Ralf Radlanski in seinem Beitrag. Aus der Anlagerung ergibt sich das Wachstumspotenzial des Kiefergelenks, das im Rahmen kieferorthopädischer Behandlungen genutzt werden kann. Das betrifft nicht nur die klassische Funktionskieferorthopädie zur Zeit des Hauptwachstumsschubs – auch bei erwachsenen Patienten ist durch nachweislich existierenden Restknorpel im Kiefergelenk noch Potenzial für die Anpassung vorhanden. Dysplasien des Kiefergelenks oder auch Unfallfolgen sowie ein Geburtstrauma können allerdings äußerst ungünstige Folgen für die Positionierung der Mandibula nach sich ziehen. Weiter stellte Radlanski strukturbiologische Zusammenhänge, neue Einsichten in die Entwicklung und Beispiele aus der Praxis vor und gab Ratschläge, wie man bei Klasse II bei einem erwachsenen Patienten in der Therapieplanung vorgehen soll. Entscheidend ist MRT des Kiefergelenks zu diagnostischem Zweck, um als Behandler die richtige Entscheidung zu treffen: Kann das Kiefergelenk noch nach vorne bewegt werden oder ist eine Operation am Kiefer notwendig?

Dr. Heinz Winsauer widmete seinen Vortrag zur Fragestellung „Hat die chirurgische Unterstützung bei der Erweiterung des erwachsenen Oberkiefers ausgedient?“ einem ukrainischen Freund und Kollegen. Die Gaumennahterweiterung (GNE) wird überwiegend im Alter von 3 bis 18 Jahren durchgeführt. Chirurgische Unterstützung, Insertionsorte für Schrauben durch Bohr- und Setschablonen und das Vorgehen zeigte er sehr ausführlich anhand von Patientenfällen mit beeindruckenden Ergebnissen: Auch bei Erwachsenen bis 30 Jahren sind GNE um bis zu 17 mm möglich. Sein Fazit: „wenn skelettal erweitert wird, muss auch skelettal retiniert werden.“

Ethik in der KFO

Prof. Dominik Groß ging auf die aktuelle Debatte der KFO im Fokus der Öffentlichkeit ein und thematisierte den aktuellen Diskurs über Evidenz und Nutzen. Sein Fazit: Überprüfung der eigenen Fachkompetenz, sorgfältige Indikationsstellung, sachgerechte, vollständige Aufklärung der Patienten, nondirektive Aufklärung, Achtsamkeit bei reiner Wunscherfüllung. Groß‘ Take Home Message: „Die KFO ist ein besonders verantwortungsvoller Tätigkeitsbereich, der bei kritischer Reflexion des Krankheitsbegriffs, bei sorgfältiger Indikationsstellung und bei selbstkritischer Ausübung einen unverzichtbaren Bestandteil zahnärztlichen Handelns darstellt.“ Als qualitätssichernde Maßnahmen empfiehlt er die Aufnahme der häufigsten Zusatzleistungen in den IGeL-Monitor, verstärkte Erstellung von Leitlinien und Stellungnahmen, Teilnahme an Chosing wisely-Initiativen und die Integration in nächste DMS.

KFO vor Gericht

Referent Prof. Robert Fuhrmann gab einen Überblick über KFO-Behandlungen, die in den vergangenen 20 Jahren vor dem Richter endeten. Zahnärzte werden in KFO-Fragen meist wegen zu später Überweisungen, unzureichender Diagnostik (CMD, Röntgen, FRS) oder Nichteinhaltung wissenschaftlicher Standards belangt, Kieferorthopäden wurden hauptsächlich wegen zu wenig Röntgen, fehlender CMD-Diagnostik, unzureichender Aufklärung und Dokumentation oder der Nichteinhaltung wissenschaftlicher Standards verurteilt. Fuhrmanns Fazit: Mangelhafter Selbstschutz! Damit man auf der sicheren Seite steht, sollte man die Dokumentation sorgfältig führen und unter anderem die Mitwirkung von Kind und Eltern notieren.

3-D: Fluch oder Segen?

Referent Dr. Philipp Eigenwillig zeigte schließlich den derzeitigen Stand der 3-D-Druckverfahren und ihren Einsatzgebieten in der Kieferorthopädie. Durch die Digitalisierung haben sich auch in der KFO enorme Möglichkeiten ergeben (Intraoralscanner, Aligner, 3-D-Druck, indirektes Bonding, virtuelle Planung, surgical guides für skelettale Verankerung etc.). Diverse digitale Lösungen in der Praxis können uns den Berufsalltag erleichtern und auch zur Verbesserung der Umwelt beitragen (zum Beispiel digitale Diagnostikmodelle statt Gipsmodelle). Hier sei jedoch zu bedenken: „Digital Orthodontics follows classic rules!“

Insgesamt attestierte das Auditorium eine sehr gelungene Veranstaltung, hervorragende Vorträge mit vielen praktischen Tipps und guter Moderation, hervorgehoben wurde auch das gut organisierte Hygienekonzept, der angeregte fachliche Austausch in den Pausen und die kollegiale Diskussion der Vorträge. Das etwas provokant gemeinte Statement von Prof. Wiechmann könnte als Fazit für den Kongress gelten: „Die klassische KFO ist kein Auslaufmodell. Sie allein macht für das Fach Kieferorthopädie den Unterschied zwischen Medizin und Frisör“.
Karen Nathan, Anke Schiemann, Vanessa Knode, Berlin

Fortbildung aktuell Kieferorthopädie

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