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Indikation, Vorteile und Möglichkeiten einer kieferorthopädischen Therapie – Überblick und Patientenfall


Dr. med. dent. Christian Kirschneck

Wie aktuelle Daten der Fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS V) zeigen, wird der Behandlungsbedarf von Parodontalerkrankungen bei rückläufiger Kariesprävalenz weiter zunehmen. Das frühzeitige Erkennen und korrekte Vorgehen bei Patienten mit einer parodontalen Problematik ist von entscheidender Bedeutung für den Behandlungs­erfolg. Eine interdisziplinäre Therapie unter Beteiligung vor allem der Parodontologie und der Kieferorthopädie kann dazu beitragen, das bestmögliche Behandlungsergebnis für den Patienten zu erreichen. Der Beitrag von Dr. Christian Kirschneck aus der Quintessenz 05/2017 gibt einen Überblick über kieferorthopädisch relevante Folgen einer chronischen Parodontalerkrankung sowie die Indikation, Vorteile und Möglichkeiten einer kieferorthopädischen Therapie im parodontal geschädigten Gebiss für typische Befunde unter Berücksichtigung regenerativer Verfahren (gesteuerte Geweberegeneration). Darüber hinaus wird anhand eines Patientenfalls eine etablierte interdisziplinäre Behandlungssystematik vorgestellt.

Die „Quintessenz“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin, ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wird 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.


Einführung

Wie Ergebnisse der aktuellen Fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS V) aus dem Jahr 2016 belegen, steigt der Behandlungsbedarf von Erkrankungen des Zahnhalteapparats (Parodont), insbesondere der Parodontitis, aufgrund der demografischen Entwicklung in Deutschland weiter an, wenn auch schwere Parodontalerkrankungen bei 35- bis 44-Jährigen in den vergangenen Jahren um 50 Prozent zurückgegangen sind31. Dies bedeutet, dass Zahnärzte und Kieferorthopäden wegen der gleichzeitig rückläufigen Entwicklung der Kariesprävalenz um 30 Prozent bei jüngeren Erwachsenen seit 199731 zunehmend mit Patienten kon­frontiert werden, die ein parodontal vorgeschädigtes Gebiss haben. Mit der wachsenden Zahngesundheit in den mittleren Altersjahren nimmt auch die Anzahl eigener Zähne im Alter zu31, was aufgrund der bekannten Assoziation zwischen Parodontalerkrankungen und Alter zur Folge hat, dass der Bedarf und die Indikation für kieferorthopädische Behandlungen steigen, die mehr und mehr von Erwachsenen in Anspruch genommen werden.

Das frühzeitige und sichere Erkennen einer parodontalen Problematik bei geplanter kieferorthopädischer Therapie ist für den Behandlungserfolg von entscheidender Bedeutung16. Zudem reicht oftmals eine alleinige systematische Parodontaltherapie nicht zur Versorgung der Patienten aus, da sie weder weitere Zahnbewegungen verhindern noch bestehende, durch die parodontale Erkrankung hervorgerufene Malokklusionen korrigieren kann34. Nur mit Hilfe einer adäquaten interdisziplinären Therapie unter Beteiligung der Parodontologie, der Kieferorthopädie, der Prothetik und gegebenenfalls der Kiefer- beziehungsweise Oralchirurgie ist es möglich, durch Berücksichtigung eventueller Stolpersteine adverse iatrogene Effekte weitgehend zu vermeiden und ein sowohl funktionell als auch ästhetisch stabiles und zufriedenstellendes Behandlungsergebnis zu erreichen. Kieferorthopädische Maßnahmen können dabei außerdem dazu beitragen, den weiteren Verlauf der Parodontalerkrankung positiv zu beeinflussen46.

Kieferorthopädisch relevante Folgen von Parodontitis

Eine chronische Parodontitis verursacht zahlreiche Verän­derungen im stomatognathen System, welche durch eine interdisziplinäre Therapie unter Beteiligung der Kieferorthopädie gezielt behandelt werden müssen, um weitere Schäden abzuwenden34. Hierzu zählen ein generalisierter horizontaler und ein lokaler vertikaler Attachment- und Knochenverlust, eine Auffächerung der Frontzähne durch Labialkippung mit Lückenbildung („flaring“) und auch assoziierte Rezessionen der Gingiva, Zahnverluste mit entsprechender Kieferkammatrophie, ein unregelmäßig verlaufender Gingivalsaum aufgrund von Elongationen mit Bissvertiefung (Overbite)34, Zahnwanderungen/-kippungen9 sowie ein Verlust von Interdentalpapillen34. Neben den morphologischen Veränderungen kommt es im parodontal geschädigten Gebiss oft zu einer gestörten Propriozeption, Phonetik bzw. Ästhetik und zu oralen Dysfunktionen34. Dazu gehören u. a. eine traumatische Okklusion durch Zahnwanderungen10, die funktionelle Unterlippeneinlagerung oder auch „Jiggling“-Effekte bei persistierender traumatischer Wechselbelastung, welche zu einer weiteren Progression von Zahnwanderungen und parodontaler Destruktion10,23,28,52 bis zum vollständigen Zahnverlust führen können. Durch bereits bestehende prothetische und konservierende Versorgungen werden zudem an die kieferorthopädische Klebetechnik in der Multibrackettherapie besondere Anforderungen gestellt.

Kieferorthopädische Maßnahmen im parodontal geschädigten Gebiss

Indikation oder Kontraindikation?

In den letzten Jahren hat die Bedeutung der Kiefer­orthopädie im Rahmen der interdisziplinären Therapie von Patienten mit parodontal geschädigtem Gebiss deutlich zugenommen34. Früher war die Meinung weitverbreitet, dass kieferorthopädische Maßnahmen in dieser Patientengruppe kontraindiziert sind14,59,60, da angenommen wurde, dass aktive entzündliche Prozesse zu einem weiteren Attachment- und Knochenverlust führen58, was durch eigene tierexperimentelle Untersuchungen bestätigt werden konnte33,36. Es hat sich jedoch inzwischen gezeigt, dass bei korrekter biomechanischer Planung und entsprechender Mund­hygiene kein schädlicher Einfluss kieferorthopädischer Maßnahmen befürchtet werden muss, wenn es gelingt, entzündliche Prozesse durch eine antiinfektiöse systematische Parodontitistherapie und eine gute Mundhygiene unter Kontrolle zu bringen7,22.

Möglichkeiten und Vorteile

Kieferorthopädische Maßnahmen können langfristig dazu beitragen, die parodontale bzw. orale Gesundheit zu verbessern34. Durch die Stellungskorrektur pathologisch gewanderter oder elongierter Zähne kann zum Beispiel eine traumatische, funktionell problematische Okklusion aufgelöst und stabilisiert werden10,28. Auch ein partieller Attachmentgewinn wird ermöglicht4,21,46. Darüber hinaus lässt sich die Mundhygienefähigkeit durch die kieferorthopädische Elimination von Plaqueretentionsstellen sowie eine bessere Zugänglichkeit bestimmter Zahnflächen und parodontaler Taschen optimieren34,37. Außerdem kann die Kieferorthopädie dazu beitragen, günstigere parodontale Verhältnisse zu schaffen. So können infraossäre Defekte und interdentale Krater reduziert und die Breite interradikulärer Septen und des Interdentalraumes bei Wurzelengstand sowie die Mineralisation des Limbus alveolaris verbessert werden19,34,37. Breitere Septen erhöhen durch eine gesteigerte Vaskularisation und Reinigungsfähigkeit zudem die immunologische Widerstandsfähigkeit gegenüber parodontalen Keimen19,20,34. In Verbindung mit Verfahren der gesteuerten Geweberegeneration („guided tissue regeneration“, GTR) ist es möglich, mittels kieferorthopädischer Zahnbewegung neues Attach­ment zu gewinnen3,4,20,21. Nicht zuletzt kann die kieferorthopädische Therapie durch eine gesteigerte orale Ästhetik auch einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität der Patienten leisten2,25.

Korrektur einer aufgefächerten Front

Die Auffächerung der Frontzähne mit Lückenbildung, Elongation und Bissvertiefung beeinträchtigt die parodontalen Verhältnisse, die Funktion und auch die orale Ästhetik34. Ursächlich sind

  • meist ein gestörter propriozeptiver Regelkreis zwischen Weichgewebe (Lippe, Zunge) und reduziertem parodontalem Attachment,
  • die Einbuße der Vertikalen im Seitenzahnbereich durch Zahnverluste oder -kippungen,
  • der Druck des entzündlichen Granulationsgewebes in infraossären Taschen,
  • der Zug gesunder kontralateraler desmodontaler Fasern sowie
  • entsprechende orale Dysfunktionen von Zunge und Lippe17,19.

Allein eine kieferorthopädische festsitzende Retrusion kann bereits zu einer deutlichen Verbesserung beitragen. Für die Korrektur kommen meist ästhetisch möglichst unauffällige Keramik- oder Lingualbrackets zum Einsatz34. Biomechanisch muss dabei eine kombinierte Intrusion und Retraktion der prokliniert-extrudierten Zähne erfolgen, denn eine reine Retraktion hätte eine weitere Bissvertiefung zur Folge12,19,34. Da gerade in der Front ästhetische Aspekte von besonderer Bedeutung sind, kommt überdies dem Papillenerhalt eine wichtige Rolle zu, um sogenannte schwarze Dreiecke zu vermeiden34. Nach Untersuchungen von Tarnow et al.53 beträgt der Abstand zwischen approximalem Kontaktpunkt und knöchernem Limbus alveolaris, der in 98 Prozent der Fälle einen Erhalt der Papille erlaubt, 5 mm. Daher muss entweder über regenerative Verfahren das Niveau des Limbus angehoben oder der Kontaktpunkt zum Beispiel durch approximale Schmelzreduk­tion nach apikal verlegt werden20,34. Obwohl eine Auffächerung der Front im parodontal geschädigten Gebiss mit einer Prävalenz von bis zu 56 Prozent40 einen häufig anzutreffenden Befund darstellt, können prin­zipiell alle Malokklusionen, Angle-Klassen und Frontzahnstellungen mit einer parodontalen Problematik assoziiert sein.

Positionsverbesserung von Zähnen im Alveolarfortsatz

Ektopisch innerhalb des Alveolarfortsatzes stehende Zähne sind für die Entwicklung von Rezessionen der Gingiva und Knochendehiszenzen bzw. -fenstern prädisponiert17,29. Durch eine kieferorthopädische Einordnung exzentrisch stehender Zähne in die Spongiosa des Alveolarfortsatzes kann das Risiko für deren Entstehung minimiert werden17.

Infraossäre parodontale Defekte

Wenn Zähne mit parodontalen Defekten kieferorthopädisch bewegt werden, besteht prinzipiell immer die Gefahr eines zusätzlichen Attachment- und Knochenverlustes, sofern akut entzündliche Prozesse zuvor nicht vollständig zur Stagnation gebracht werden konnten33,36,58. Ist das jedoch der Fall, kann eine Zahnbewegung in Richtung des infraossären Defektareals dieses auch unter Bildung eines langen epithelialen Attachments reduzieren bzw. zumindest den Status quo erhalten15,27,38,47. Klinische Untersuchungen weisen zudem darauf hin, dass sich neues Attachment erzeugen lässt, wenn die Zahnbewegung in Kombination mit einer regenerativen Parodontaltherapie (GTR) durchgeführt wird3,4,44,56. Erfolgt die Zahnbewegung entgegen dem Defektareal, können die Mineralisierung und die Knochenbildung auf der Zugseite normal ablaufen, sofern das Parodont im Defektbereich nicht zu stark reduziert ist32,34. Regenerative Verfahren lassen sich hier auch nach erfolgter Zahnbewegung anwenden32,34. Eine weitere Möglichkeit der Reduktion infraossärer Defekte stellt die kontrollierte Extrusion dar13, bei der es stets gilt, die applizierten Kräfte an die parodontale Situation anzupassen.

Regenerative Parodontaltherapie (GTR)

Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass eine systematische Parodontaltherapie das parodontale Ligament nicht im Sinne einer Restitutio ad integrum durch Bildung neuen bindegewebigen Attachments regenerieren kann17. Sie führt vielmehr zur Ausbildung eines sogenannten langen epithelialen Attachments bzw. Saum­epithels17, da das deutlich schneller proliferierende Epithel den parodontalen Raum rascher aufzufüllen vermag als das wesentlich langsamer proliferierende parodontale Bindegewebe. Dank der Entwicklung der GTR20 kann inzwischen unter Nutzung von Mem­branen, mit denen rechtzeitig eine mechanische Pro­liferationsbarriere für das Epithel zu schaffen ist, sowie autologem Knochen, Knochenersatzmaterial, Wachstumsfaktoren und Schmelzmatrixproteinen37,49 je nach Defekttyp ein neues bindegewebiges Attachment gebildet werden20,49. Dieser Sachverhalt verbessert auch die Prognose für eine Stellungskorrektur pathologisch gewanderter Zähne, da sich durch die Regeneration neuer desmodontaler und suprakrestaler Fasern auf der Zugseite kieferorthopädische Kräfte besser auf den Alveolarknochen übertragen lassen17. Das regenerative Potenzial der GTR kann voraussichtlich bei einer unmittelbar im Anschluss stattfindenden Zahnbewegung weiter gesteigert werden3,4. Die Kombina­tion aus GTR und kieferorthopädischer Zahnbewegung hat sich insbesondere bei der Intrusion und Extrusion von Zähnen mit tiefen Taschen bzw. Furkationsbeteiligung sowie bei der Aufrichtung gekippter Molaren mit mesialen Knochendefekten bewährt8,46.

Intrusion und Extrusion

Intrusionen elongierter Zähne mit parodontalen Vorschäden muss eine exakte biomechanische Planung vorausgehen, um ein Fortschreiten von Attachmentverlusten zu vermeiden43. Dies betrifft neben einer reduzierten Kraftgröße insbesondere die apikalere Lage des Widerstandszentrums34. Während durch eine In­trusion ohne GTR gewöhnlich kein neues Attachment gebildet werden kann17, ist bei korrekter Planung und Biomechanik sowie suffizienter Mundhygiene (Entzündungsfreiheit) ein Erhalt bestehenden Attachments möglich42,43. Dabei kommt der regelmäßigen Reinigung der gingivanahen Wurzeloberflächen mittels Scaling und Politur während der Intrusion eine entscheidende Rolle zu, denn im Fall einer Verschleppung dentaler Plaque nach apikal ist mit einem weiteren Attach­ment­verlust zu rechnen24.

Extrusionen von Zähnen mit parodontalen Vorschäden, welche in der Regel problemlos und kontrolliert durchgeführt werden können, empfehlen sich vor allem bei ein- und zweiwandigen knöchernen Defekten30. Sie dienen meist einer Regeneration von Knochen vor einer geplanten Implantation1,37 oder aber einer Verbesserung des Knochenniveaus, da der Abstand vom knöchernen Limbus alveolaris zur Schmelz-Zement- Grenze eine Konstante darstellt (biologische Breite)5. Die Extrusion muss dabei langsam und mit geringen Kräften durchgeführt werden17. Dies ermöglicht ein Mitwachsen des Alveolarknochens nach koronal45,50 und die Ausnivellierung von Knochendefekten sowie eine Mitverlagerung bindegewebigen Attachments17.


Abb. 1 Kieferorthopädische Aufrichtung eines nach mesial gekippten zweiten unteren Molaren mittels skelettal verankerter Teilbogenmechanik.

Bisshebung und Aufrichtung gekippter Zähne

Nach Extraktion oder Zahnverlust kann bei reduziertem parodontalem Attachment der benachbarten Zähne häufig deren rasche Kippung in die entstandene Lücke beobachtet werden17. Charakteristisch ist vor allem eine Mesialkippung von zweiten Molaren bei Verlust der Sechsjahrmolaren34. Meist kommt es hierdurch zu Fehlkontakten und einer traumatischen Okklusion10, welche das bereits geschwächte Parodont überlasten und somit zu einem weiteren Knochenverlust und zu Zahnwurzelresorptionen führen können17,34. Zusätzliche Folgeerscheinungen sind oftmals eine Bisssenkung mit Protrusion bzw. Auffächerung der Front, Elonga­tionen, ein unvollständiger Lippenschluss und ein Abknicken des Limbus alveolaris nach apikal34. Dabei entsteht ein spitzerer Winkel und somit eine Nische zwischen gekipptem Zahn und Knochen, wodurch das weitere Fortschreiten der Parodontitis mit Bildung eines echten infraossären Defektes begünstigt wird17,34. Eine kieferorthopädische Aufrichtung gekippter Zähne (Abb. 1) kann deshalb deren Langzeiterhalt maßgeblich positiv beeinflussen, da sich aufgrund der verbesserten Parodontalhygiene meist Attachment erhalten bzw. gewinnen lässt und Taschen reduziert werden können17,21,32,38.

Behandlungspfad im parodontal geschädigten Gebiss

Die hohe Komplexität interdisziplinärer Fälle unter Beteili­gung der Kieferorthopädie, der Parodontologie, der Prothetik sowie der Kiefer- bzw. Oralchirurgie erfordert vor Therapiebeginn eine sorgfältige Abwägung von Nutzen und Risiko anhand der individuell vorliegenden Befunde und eine genaue Fallplanung unter Berücksichtigung der besonderen biomechanischen Verhältnisse, um iatrogene Schäden weitgehend zu vermeiden. Ob im parodontal geschädigten Gebiss eine kieferorthopädische Therapie indiziert ist, d. h. Vorteile für den Patienten zu erwarten sind, sollte vor Behandlungsbeginn anhand einer Checkliste mit folgenden Fragen geprüft werden34:

  • Kann kieferorthopädisch sowohl eine ästhetische als auch eine funktionelle Verbesserung erzielt werden?
  • Gibt es allgemeinanamnestische Besonderheiten mit Therapierelevanz?
  • Von welcher Qualität ist die Mundhygiene des Pa­tienten, und lässt sie sich dauerhaft verbessern bzw. aufrechterhalten?
  • Wie sehen der konservierende, der endodontische, der prothetische und vor allem der parodontale Befund zu Behandlungsbeginn aus?
  • Welche parodontale Situation ist bei Behandlungsende zu erwarten?
  • Welche Langzeitprognose haben kieferorthopädische Korrekturen (Stabilität) und die parodontale Situation nach der Therapie?
  • Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit apikaler Resorptionen durch Zahnbewegungen?
  • Wie hoch sind die Belastbarkeit und die Compliance des Patienten?
  • Wie ist die Zufriedenheit des Patienten bezüglich der formulierten Wünsche und Erwartungen?

Präorthodontische Maßnahmen

Vor der eigentlichen kieferorthopädischen Therapie ist es essenziell, dass akute parodontale Entzündungsprozes­se kontrolliert und erfolgreich therapiert werden57. Um diese zuverlässig zu diagnostizieren, müssen zu Beginn ein parodontales Screening41 (Abb. 2 bis 6) mit einer Dokumentation des Plaque- und Blutungs­index und eine Erhebung des Parodontalstatus des Patienten erfolgen, wobei die Zahnfleischtaschen sondiert (Attachmentverlust) und der Lockerungsgrad, ein möglicher Furkationsbefall, Rezessionen der Gingiva sowie die Erhaltungswürdigkeit von Zähnen bestimmt werden. Neben einer Panoramaschichtaufnahme (Abb. 7) kann vor allem bei fortgeschrittenem Attachmentverlust auch ein Zahnfilm-Röntgenstatus in Rechtwinkeltechnik zur weiteren Diagnostik sinnvoll sein. Im Fall einer bestehenden parodontalen Problematik wird der Patient einer systematischen Parodontaltherapie zugeführt, welche ein Scaling und Root Planing, die Beseitigung überstehender Kronen- und Füllungsränder und – falls indiziert – auch parodontalchirurgische und -regenerative Maßnahmen sowie die Extraktion nicht erhaltungswürdiger Zähne umfassen sollte57.

Parallel muss der Patient in ein systematisches Prophy­laxeprogramm aufgenommen werden. Neben einer Intensivierung der Mundhygiene durch den Pa­tienten selbst nach entsprechenden Instruktionen beinhaltet dieses vonseiten des Zahnarztes auch eine Verbesserung der Mundhygienefähigkeit durch die Therapie kariöser Läsionen und den provisorischen Austausch insuffizienter Restaurationen57. Eine definitive Versorgung sollte jedoch erst nach Abschluss der kieferorthopädischen Therapie erfolgen, um danach veränderte okklusale Verhältnisse berücksichtigen zu können.

Darüber hinaus müssen in der präorthodontischen Phase auch Frühkontakte und Gleithindernisse in der statischen und dynamischen Okklusion zum Beispiel durch eine Schienen- oder myofunktionelle Therapie behandelt werden57. Wenn kritische mukogingivale Befunde vorliegen, empfiehlt es sich zudem, das Weichgewebe präorthodontisch durch entsprechende Transplantate (freie Schleimhaut, Bindegewebe) aufzubauen19.

Im Fall einer aggressiven, schweren chronischen oder refraktären Parodontitis bei Vorliegen von par­odontalpathogenen Keimen des „roten Komplexes“ oder des Aggregatibacter actinomycetemcomitans ist zusätzlich zur mechanischen Therapie auch eine systemische Gabe von Antibiotika indiziert54. Bewährt hat sich hier die dreimal tägliche Verabreichung des sogenannten Van-Winkelhoff-Cocktails, einer Kombination aus Amoxicillin und Metronidazol, für einen Zeitraum von 8 Tagen55.

Vor Beginn der kieferorthopädischen Therapie sollten unbedingt die Mundhygiene und die Mitarbeit des Patienten als essenzielle Voraussetzungen für einen Therapieerfolg reevaluiert werden19. Wenn bezüglich dieser Parameter Zweifel bestehen, ist es eher ratsam, von einer Behandlung abzusehen bzw. lediglich eine vereinfachte Kompromissbehandlung durchzuführen, um das Risiko eines erneuten Aufflammens parodontal entzündlicher Prozesse während der Therapie zu minimieren34.

Kieferorthopädische bzw. kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgische Therapie

Nach Abschluss der Parodontaltherapie sollte möglichst eine Wartezeit von 4 bis 6 Monaten eingehalten werden, bevor die Applikation kieferorthopädischer Kräfte erfolgt19. Eine Ausnahme stellt die nach Beendigung der antiinfektiösen Therapie mögliche regene­rative Parodontaltherapie mittels GTR dar39, denn Studienergebnisse weisen darauf hin, dass eine unmittelbar nach GTR durchgeführte Kraftapplikation die Regeneration unterstützen kann3,4. Generell wird jedoch auch in diesem Fall eine Wartezeit von ca. 4 bis

6 Wochen empfohlen19.

Die kieferorthopädische Therapie im parodontal geschädigten Gebiss kann alle bereits zuvor beschriebenen Maßnahmen umfassen. Dazu gehören u. a. die Korrektur einer aufgefächerten Front, die Positions­verbesserung von Zähnen im Alveolarfortsatz, die Bewegung von Zähnen mit infraossären parodontalen Defekten, Zahnbewegungen in Kombination mit GTR, eine Intrusion elongierter Zähne (Abb. 8), die Extru­sion von Zähnen zur Knochenregeneration und zur Verbesserung des Knochenniveaus sowie eine Biss­hebung und Aufrichtung gekippter Zähne (Abb. 4). Bei Patienten mit bestehender skelettaler Dysgnathie kann zudem in dieser Phase eine Dysgnathieoperation indiziert sein (Abb. 9).

Entscheidend für den kieferorthopädischen Therapie­erfolg ist vor allem die Wahl eines geeigneten biomechanischen Systems18, das die besondere parodontale Situation berücksichtigt, da im Gegensatz zum ge­sunden beim parodontal geschädigten Parodont die Adaptationsfähigkeit stark herabgesetzt und das Wider­standszentrum nach apikal verlagert ist (verändertes Drehmoment-Kraft-Verhältnis)34. Segmentierte Bogentechniken (Burstone)11 mit der Applikation geringer Kräfte und entsprechender kompensatorischer Drehmomente haben sich hierzu bewährt, während herausnehmbare Apparaturen aufgrund von „Jiggling“- Effekten kontraindiziert sind. Auch ist die Verankerungsqualität parodontal geschädigter Zähne im Allgemeinen stark reduziert, was bei der Therapieplanung berücksichtigt werden muss18. Außerdem empfiehlt es sich, Zähne, die bereits einen starken Lockerungsgrad aufweisen (II oder III), gänzlich aus dem Kraftsystem zu nehmen und zusätzlich mittels Aufbissplatten oder fester Schienung zu stabilisieren18. Plaqueretentionsstellen durch Bondingüberschüsse oder fehlerhaftes Design der kieferorthopädischen Apparatur sollten generell vermieden werden51, was in gleicher Weise für Bänder6 und elastische Ligaturen26 gilt.

Wie bereits in der präorthodontischen Phase ist auch während der kieferorthopädischen Therapie eine suffiziente Mundhygiene essenziell. Sie sollte ebenso wie die parodontale Situation engmaschig überprüft und durch professionelle Mundhygienemaßnahmen ergänzt werden. Falls es während der Therapie doch zu einer akuten Exazerbation der parodontalen Entzündung kommt (refraktäre Parodontitis), muss der entsprechende Zahn sofort aus dem Kraftsystem genommen werden, um eine Progression parodontaler Knochenverluste zu vermeiden19,33,36. Bei generalisiertem Auf­treten ist auch ein Abbruch der Behandlung zu erwägen.

Postorthodontische Maßnahmen

Nach erfolgreichem Abschluss der kieferorthopädischen Therapie (Abb. 10 bis 15) sollte der Patient in ein systematisches parodontologisches Recallprogramm aufgenommen werden, um die Stabilität der parodontalen Situation langfristig sicherstellen zu können. Auch kann nun eine definitive (implantat)prothetische restaurative Versorgung erfolgen (Abb. 16 bis 18). Aufgrund der bei geschwächtem parodontalem Halte­apparat stark erhöhten Rezidivneigung im Spannungsfeld der funktionellen Kräfte des stomatognathen Systems35 und der generell im Alter herabgesetzten Adaptationsfähigkeit35 sollte mindestens 6 Monate nach Therapieende retiniert werden37. Dabei gilt es vor allem, ein „Jiggling“, d. h. intermittierend wechselnde Kräfte auf die Zähne, zu vermeiden, da dies einen progredienten Attachmentverlust zur Folge hätte10,17,23,52. Meist bietet sich bei Patienten mit parodontal vorgeschädigtem Gebiss daher eine Dauerretention mittels lingual bzw. oral geklebtem Drahtretainer an48, denn nur auf diesem Wege kann eine langfristige Stabilität sichergestellt werden. Die eingeschränkte parodontale Hygienefähigkeit im Bereich des Retainers erfordert jedoch regelmäßig eine besondere Kontrolle.

Fazit

Bei Patienten mit parodontal geschädigtem Gebiss und kieferorthopädisch relevanten Veränderungen kann ein zufriedenstellendes Behandlungsergebnis meist nur durch eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Parodontologie, Kieferorthopädie, Prothetik und ggf. Kiefer- bzw. Oralchirurgie erreicht werden. Wenn es gelingt, durch eine systematische parodontale Vorbehandlung aktive Entzündungsprozesse im Parodont unter Kontrolle zu bringen, können kiefer­orthopädische Maßnahmen nicht nur ohne erhöhtes Risiko einer weiteren Progression der parodontalen Erkrankung durchgeführt werden, sondern auch den Erfolg der Parodontaltherapie sowie die Funktion und Ästhetik des oralen Systems verbessern (Abb. 19 und 20). Voraussetzung ist eine umfassende und korrekte Thera­pieplanung unter Berücksichtigung der besonderen biomechanischen Verhältnisse und des individuellen Patientenbefundes nach Abwägung von Nutzen und Risiko. Da aufgrund des reduzierten Attachments von einer erhöhten Rezidivneigung ausgegangen werden muss, ist eine Langzeitretention des Behandlungs­ergebnisses anzuraten.

Ein Beitrag von Dr. med. dent. Christian Kirschneck, Regensburg

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Quelle: Quintessenz Zahnmedizin, Ausgabe 5/17 Kieferorthopädie Zahnmedizin Parodontologie

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