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Konzept für eine „unsichtbare“ kieferorthodontische Behandlung zur Mesialisierung des zweiten und dritten Oberkiefermolaren – ein Patientenfall

Die Kieferorthopäden Dr. Stephan Pies und Dr. Beate Pies stellen an einem Patientenfall für die Kieferorthopädie 1/19 den erfolgreiche Einsatz einer vollständig individualisierten lingualen Apparatur in Kombination mit einer skelettalen Verankerung bei einseitigem Lückenschluss im Molarengebiet vor.

Die „Kieferorthopädie“ informiert viermal im Jahr über die neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen aus Praxis und Wissenschaft. Die Beiträge befassen sich mit allen Sachgebieten der modernen Kieferorthopädie. Praxisnahe Patientenberichte und Übersichtsartikel bilden das Herzstück jeder Ausgabe. Kongressberichte, Buchbesprechungen, Praxistipps, Interviews und eine ausführliche Übersicht über kieferorthopädische Fortbildungsveranstaltungen runden das redaktionelle Spektrum ab. Eine Vielzahl von anschaulichen, zum größten Teil farbigen Abbildungen in optimaler Reproduktionsqualität illustriert die einzelnen Beiträge. Mit kostenlosem Zugang zur Online-Version recherchieren Abonnenten komfortabel online – auch rückwirkend ab 2003 im Archiv. Kostenloser Zugang zur App-Version für Abonnenten. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.

Einleitung

Die ersten Molaren des permanenten Gebisses sind die Zähne, die am häufigsten karies­be­dingt verloren gehen1. Die einseitige Molaren­extraktion ist immer eine große Herausforderung  hinschtlich der Verankerung, insbesondere dann, wenn die bestehende gute Verzahnung des Patien­ten nicht aufgelöst und die Front nicht rekliniert werden soll.

Eine Gesichtsmaske zur Protraktion der Molaren einzusetzen, ist im Bereich der konventionellen Orthodontie möglich, erscheint für den Einsatz in der lingualen Orthodontie aber obsolet zu sein. Der orthodontische Lückenschluss von distal durch vollständige Mesialisation des zweiten Molaren und nachfolgender Einstellung des dritten Molaren stellt neben der Versorgung mit Implantaten, Brücken oder herausnehmbarer Prothetik eine gute Behandlungsoption dar, zumal die orthodontische Behandlung mit der Einstellung der Molaren beendet werden kann und aufwendige implantologische und prothetische Maßnahmen, welche im Laufe des Lebens des Patienten gegebenenfalls wiederholt werden müssten, der Patientin erspart bleiben können2–5. In jüngster Zeit bewähren sich Titanminiimplantate immer mehr, da sie günstiger und weniger invasiv sind als enossale Implantate, welche in der Vergangenheit das Mittel der Wahl waren2,4,6–11. Eine häufig empfohlene Insertionsstelle für Miniimplantate ist der bukkale Alveolarkamm, wobei darauf geachtet werden muss, dass das inserierte Minimplantat nicht der geplanten Zahnbewegung im Wege steht. Bei richtiger Indikationsstellung ist auch der anteriore Gaumen eine geeignete Insertionsstelle12. Ein weiterer Vorteil der Insertion im anterioren Gaumen ergibt sich aus der dünnen befestigten Gingiva, der dort vorhandenen guten Knochenqualität und einer sehr guten Erfolgsrate13,14. Die hier gezeigte Fall beschreibt die erfolgreiche Behandlung einer fast erwachsenen Patientin (16,5 Jahre), die sich aufgrund des Verlusts von Zahn 26 unmittelbar nach Abschluss ihrer kieferorthopädischen Behandlung alio loco mit lückigem Oberkieferzahnbogen und gebrochener Oberkieferfrontzahndauerstabilisierung vorstellte. Die Behandlungsaufgabe bestand in vollständiger Mesialisa­tion der Zähne 27 und 28 sowie Ausformung eines lückenlosen Zahn­bogens bei Erhalt der guten Interkuspidation der nicht zu bewegenden Molaren und Prämolaren und Vermeidung der Reklination der Ober­kieferfront. Dieser Behandlungsfall zeigt ebenfalls die Mechanik der direkten Verankerung mittels je einem bukkal und einem im anterioren Gaumen inserierten Miniimplantats. 

Diagnose und Ätiologie

Die Patientin (16,5 Jahre alt) stellte sich nach alio loco abgeschlossener kieferorthopädischer Behandlung zur Behandlung vor, da unmittelbar nach Abschluss ihrer kieferorthopädischen Behandlung ihr Zahn 26 aufgrund von pulpitischen Beschwerden extrahiert werden musste und ihre Oberkieferfrontzähne nach Retainerbruch bereits erste unschöne Zahnstellungsveränderungen aufwiesen. Die dritten Molaren waren angelegt. Die Extraktion von Zahn 26 erfolgte sechs Wochen vor Erstellung der Anfangsdiagnostik und vier Monate vor Inkorporation der vollständig individualisierten lingualen Apparatur.

Die Patientin stellte sich mit einem geraden Profil, leicht vergrößerter unterer Gesichtshöhe und einer gnathischen Mittellinienverschiebung des Unterkiefers nach links vor.

Die Oberkieferfront war lückig protrudiert, rechtsseitig bestand eine Klasse-I-Verzahnung und linksseitig eine Klasse-II-Verzahnung um 1/4 Prämolarenbreite.

Die Abbildungen 1 und 2 zeigen die intraoralen Fotografien und die dreidimensional orientierten Gipsmodelle zu Behandlungsbeginn.

Das initiale Orthopantomogramm zeigt die Retention der dritten Molaren, die aufgrund ihrer ungünstigen Lage nicht durchbrechen konnten (Abb. 3). Darüber hinaus ist die deutliche Absenkung der Kieferhöhle im Bereich der Extraktionslücke von Zahn 26 zu erkennen.

Behandlungsplan

Im Zuge der orthodontischen Behandlung sollte die Extraktionslücke Regio Zahn 26 durch Me­sialisation von Zahn 27 vollständig geschlossen, Zahn 27 anstelle von Zahn 26 und Zahn 28 anstelle von Zahn 27 eingestellt werden. Die Verankerung sollte über zwei Ankerschrauben (Dual-Top, 20-G2-010, Fa. Promedia Medizintechnik, Siegen) erfolgen. Der restliche Ober- und Unterkieferbogen sollte gut ausgeformt in einer guten Okklusion stabilisiert werden.

Behandlungsverlauf

Die vollständige Mesialisierung der zweiten Molaren in die Extraktionslücke des ersten Molaren mit nachfolgender Mesialisation des dritten Molaren erfordert eine außerordentlich starke Verankerung, insbesondere dann, wenn die Kieferhöhle sich bereits in die Extraktionslücke ausgedehnt hat.

Tab. 1 Bogenfolge im Behandlungsverlauf (NiTi: Nickel-Titan, TMA: Titan-Molybdän-Alloy).
Tab. 1 Bogenfolge im Behandlungsverlauf (NiTi: Nickel-Titan, TMA: Titan-Molybdän-Alloy).
Zur Behandlung wurde eine vollständig in­dividualisierte linguale Apparatur gewählt, die nach A-Silikon-Abformungen gefertigt wurde. Das Set-up folgt den „six keys to normal occlusion“ nach Andrews15 mit der Besonderheit, dass anstelle von Zahn 26 Zahn 27 eingestellt wurde. Zahn 28 war zum Zeitpunkt der Set-up-Erstellung noch nicht in die Mundhöhle durchgebrochen. Die Bogenfolge im Behandlungsverlauf zeigt Tabelle 1.

Zur Friktionsreduktion wurde der Führungsbogen (0.018 x 0.025 inch stark) distal von Zahn 25 elektrolytisch reduziert. Die direkte Verankerung wurde über den Einsatz von zwei Ankerschrauben (Dual Top, 20-G2-010) erzielt, welche zum Zeitpunkt des Einsatzes des distal von Zahn 25 elek­tro­lytisch reduzierten 0.018 x 0.025 Stahlbogens im Oberkiefer eingesetzt wurden.

Zur Reduktion von Friktion, Binding und Canting sowie zur Vermeidung von ungewünschten Rotationen des zu mesialisierenden Zahns 27 wurde eine sogenannte Double-cable-Mechanik verwandt. Dies bedeutet je eine direkt auf der Verankerungsschraube und an Zahn 27 befestigte Elastomerkette (F.M. Ringlet, Rocky Mountain Morita Corp.) bukkal und palatinal und bewirkt eine gleichzeitige, gleichmäßige palatinale und vestibuläre Mesialtraktion (Abb. 4). Mit dieser Mechanik konnte im Verlauf von 20 Monaten die vollständige Mesialisierung von Zahn 27 erfolgen, ohne eine Verankerungsbelastung für das Frontzahnsegment auszulösen (Abb. 5). Das Frontzahnsegment konnte während der Mesialisierungsphase weiter gut ausgeformt, Angulation und Torque konnten eingestellt werden. Zahn 28 ist Zahn 27 in seiner Mesialisierung auch ohne Bracketierung gefolgt.

Das Behandlungsergebnis zeigt zudem, dass eine gute antagonistische Abstützung der Zähne 27 und 28 gegen die Zähne 36 und 37 erreicht werden konnte (Abb. 6).

Diskussion

Der vorgestellte Fall zeigt die erfolgreiche Mesialisation von Zahn 27 in die Extraktionslücke des Zahns 26, die nachfolgende Einstellung von Zahn 28 anstelle des Zahns 27, die gute orthodontische Feineinstellung mittels einer vollständig individualisierten lingualen Apparatur und eine Remodellierung der Kieferhöhle. Diese Therapie ist demnach eine gute Behandlungsalternative zu konventionellen Versorgungsformen16,17 und war zu jedem Zeitpunkt vollständig unsichtbar.

Alternativ zur Protraktion mittels Elastomerketten wäre auch der Einsatz von Nitinolfedern möglich gewesen, welche im gewählten Einsatzgebiet erfahrungsgemäß häufig Gingivairritationen verursachen können und aus diesem Grunde unberücksichtigt blieben.

Neben der von uns gewählten direkten Verankerung, die gelegentlich aufgrund der Überlastung der Miniimplantate zu deren Verlust führen kann, wäre auch eine indirekte Verankerung, zum Beispiel an dem durch Miniimplantate verankerten Zahn 25, möglich gewesen. Dies hätte jedoch insbesondere zum Ende der Mesialisierungsphase eine Verkürzung der Aktivierungsstrecke für die Elastomerketten bedeutet, was erfahrungsgemäß mit einer Reduktion der Zahnbewegungsgeschwindig­keit einhergeht. Gegebenenfalls ist darüber hinaus auch eine ungewünschte asymmetrische Hemmung des Oberkiefervertikalwachstums denkbar, die es ebenfalls zu vermeiden gilt.

Während der Behandlung kam es zu keinen Bracketverlusten, jedoch zu gelegentlichen Terminversäumnissen, wodurch sich die Behandlungszeit verlängerte. Die vestibuläre Ankerschraube (Dual-Top, 20-G2-010) löste sich im Zuge der Mesialisation, musste jedoch nicht ersetzt werden, da zu diesem Zeitpunkt die Mesialisation von Zahn 27 in die Extraktionslücke schon so weit fortgeschritten war, dass die stabile palatinale Ankerschraube (Dual-Top, 20-G2-010) zur Verankerung aus­reichend war. Um weiterhin Friktion, Binding, Canting und Notching zu vermeiden beziehungsweise zu reduzieren, wurde zur Fortführung der Double-cable-Mechanik ein Attachement hoch vestibulär und somit fast unsichtbar auf Zahn 23 aufgebracht.

Die Patientin war mit ihrer unsichtbaren kieferorthopädischen beziehungsweise orthodontischen Behandlung sehr zufrieden und genießt ihren Behandlungserfolg. Ganz besonders freut sie sich über den erfolgreichen Lückenschluss, die gelungene Einordnung ihres Weisheitszahns und die Tat­sache, dass sie nunmehr bei guter Pflege ohne Zahnersatz durchs Leben gehen kann.

Gegebenenfalls können die Methoden der akzelerierten Kieferorthopädie wie zum Beispiel Kortikotomie16–18, Ultraschallbehandlung19, Lasertherapie20 oder Fotobiostimulation21, die PD Dr. Michael Wolf in seinem Vortrag anlässlich des XXII. GBO-Jahreskongress 2017 in Bonn vorgestellt hat22, zukünftig dazu beitragen, die Behandlungszeiten in solch aufwendigen Behandlungssituationen mit sehr großen Zahnbewegungsstrecken deutlich zu reduzieren.

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Ein Beitrag von Dr. Stephan Pies und Dr. Beate Pies, beide Remscheid

Quelle: Quintessenz Kieferorthopädie Kieferorthopädie Zahnmedizin

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