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Digitale Fertigungsprozesse ermöglichen eine langfristige und qualitativ hochwertige Versorgung bleibender Molaren


Dr. med. Jan Pfisterer, Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München

Die zahnärztliche Versorgung von Kindern mit ausgeprägten Zahnhartsubstanzdefekten aus dem Formenkreis der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) ist eine besondere Herausforderung in der zahnärztlichen Praxis. Aufgrund der aus Hypersensibilitäten, Schmerzen und Schmelzverlusten bestehenden klinischen Symptomatik ist an den betroffenen bleibenden Zähnen eine frühzeitige restaurative Therapie indiziert. Diese kann wegen einer eingeschränkten Kooperationsfähigkeit oftmals nur in begrenztem Maße umgesetzt werden und mündet regelmäßig sowohl in Kompromissbehandlungen als auch in einen wiederkehrenden Therapiebedarf. Die vorliegende Kasuistik im Beitrag von Dr. Jan Pfisterer aus der Quintessenz (Quintessenz 2017;68(1):7–16) beschreibt aus diesen Erfahrungen heraus die einzeitige, indirekte, CAD/CAM-basierte Restauration von insgesamt vier umfangreich vorbehandelten Molaren bei einem Achtjährigen mit MIH. Der Fall demonstriert, dass digitale Fertigungsprozesse das Potenzial besitzen, in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit MIH eine langfristige und qualitativ hochwertige Versorgung bleibender Molaren zu ermöglichen.

Die „Quintessenz“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin, ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wird 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.


Einleitung

Parallel zu dem erfreulichen Trend eines stetig rückläufigen Kariesbefalls wurde in den vergangenen Jahrzehnten über eine steigende Zahl von Strukturstörungen an bleibenden Zähnen berichtet. Mit Blick auf die Häufigkeit des Auftretens der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH), von der in Deutschland je nach verwendeter Definition etwa 10 bis 28 Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen sind8,10,19, kann diese Annah­me nur bestätigt werden.

Als Hypomineralisationen bezeichnet man Opazitäten des Zahnschmelzes, die eine scharfe Abgrenzung zum gesunden Zahnschmelz aufweisen können und dann dem MIH-Formenkreis zugeordnet werden. Dem­gegenüber sprechen diffuse Opazitäten eher für eine fluoridbedingte Störung der Mineralisation (Fluorose). Von diesen qualitativen Veränderungen lassen sich quantitative Defekte (Hypoplasien) abgrenzen, die durch Normabweichungen von der regulären Schmelzdicke gekennzeichnet sind. Im Fall der MIH kann zwischen prä- und posteruptiven Schmelzeinbrüchen unterschieden werden. Während Zähne mit präeruptiven Defekten bereits mit partiell fehlendem Zahnschmelz in die Mundhöhle durchbrechen, werden posteruptive Defekte erst durch die funktionelle Belastung verursacht. Hier gelten die Kauflächen der (ersten) bleibenden Molaren als prädisponierte Lokalisation, und entsprechende Defekte können schon unmittelbar nach der Eruption diagnostiziert werden. Die wesentliche klinische Symptomatik dieser Zähne ist eine ausgesprochene Empfindlichkeit auf thermische, chemische oder mechanische Stimuli7,23. Aufgrund der erhöhten Sensibilität der hypomineralisierten Zähne gestaltet sich eine adäquate Mundhygiene oftmals schwierig, so dass sich das Kariesrisiko an diesen Zähnen erhöht.

Systematische und lokale Faktoren

Als Ursache für das Auftreten von Hypomineralisationen und/oder Hypoplasien sind sowohl systemische als auch lokale Faktoren zu diskutieren11,12. Im Hinblick auf die Ätiologie der MIH besteht Konsens darüber, dass vordergründig eine systemisch bedingte Schädigung der Ameloblasten während der Zahn- bzw. Schmelzentwicklung vorliegen muss. In der Literatur werden diesbezüglich verschiedenste Faktoren diskutiert. Dazu gehören eine umweltbedingte Bisphenol- oder Dioxinexposition, frühkindliche Infekte, Antibiotikagaben im Frühkindesalter, ein Sauerstoffmangel unter der Geburt und Störungen im Calcium- oder Phosphatstoffwechsel. Jedoch bleibt zu konstatieren, dass eine stichhaltig nachvollziehbare Ätiologiekette, die das Auftreten der MIH bzw. der Hypomineralisationen erklärt, gegenwärtig noch nicht vorliegt1,3.

Therapieoptionen bei MIH

In der klinischen Praxis werden am häufigsten cremig- weiße bis gelb-braune Hypomineralisationen ohne Hypoplasien und/oder Schmelzeinbrüche beobachtet. Prinzipiell können solche Schmelzbildungsstörungen an allen Zähnen der primären und bleibenden Dentition diagnostiziert werden und bedürfen grundsätzlich keiner restaurativen Therapie. Dies trifft für die überwiegende Mehrzahl aller MIH-assoziierten Hypomineralisationen zu. Nicht unerwähnt bleiben soll die reduzierte Ästhetik, die aufgrund der Lokalisation an den bleibenden Schneidezähnen und deren Vestibulärflächen von den Betroffenen immer wieder artikuliert wird und oftmals zur Vorstellung des Kindes in der zahnärztlichen Praxis führt4,14,15.

Mit dem Vorkommen bzw. Auftreten von Schmelz­einbrüchen steigt die Notwendigkeit restaurativer Therapiemaßnahmen. Die Empfehlungen reichen hier von der Verlaufskontrolle minimaler Schmelzdefekte über die Füllungstherapie bei deutlichen Einbrüchen bis hin zur Extraktion im Fall eines (nahezu) vollständigen Defektes der gesamten Zahnkrone15. Allerdings wird die Therapieentscheidung von weiteren Faktoren beeinflusst. Dazu zählen in erster Linie die Schmerzhaftigkeit der betreffenden Zähne, der Umfang der Schmelzeinbrüche, die Anzahl gleichfalls betroffener Zähne und/oder kieferorthopädische Befunde wie zum Beispiel Engstände. Vor allem bei umfangreichen Schmelz­defekten, die typischerweise mit einer deutlichen Schmerzempfindlichkeit bei der Nahrungsaufnahme und der täglichen Mundhygiene vergesellschaftet sind, erscheint die frühzeitige Restauration nach der Eruption der Zähne unausweichlich. Jedoch reduzieren die klinische Symptomatik, die erschwerte Anästhesier­barkeit20 sowie die aufwendigen und umfangreichen Therapiemaßnahmen die Kooperationsbereitschaft der betroffenen Kinder und verhindern letztlich eine Behandlung in Lokalanästhesie. Wenn Letzteres nicht in Frage kommt, muss nach sorgfältiger Indikationsstellung eine Behandlung in Allgemeinanästhesie in Erwägung gezogen werden. Mit dieser Entscheidung ist aber die Forderung nach einer langfristigen zahnärzt­lichen Versorgung zu erheben, um Wiederholungstherapien zu vermeiden. Da Komposite diesem Anspruch insbesondere bei mehrflächigen Defekten im Seitenzahngebiet nur bedingt gerecht werden, ist die Verwendung keramischer Werkstoffe eine mögliche Alternative. Allerdings ist dies an die Nutzung digitaler Fertigungsprozesse gebunden, um die grundsätzliche Forderung nach einer einzeitigen Versorgung zu er­füllen.

Zielsetzung

Ziel des vorliegenden Fallberichtes ist es, die einzeitige und indirekte CAD/CAM-basierte Restauration von insgesamt vier umfangreich vorbehandelten Molaren bei einem Achtjährigen mit MIH zu beschreiben. Aufgrund der Vorgeschichte war eine zahnärztliche Therapie in Lokalanästhesie unmöglich, so dass die Indikation zur Behandlung unter Allgemeinanästhesie gestellt wurde.

Fallbericht

Anamnese und Diagnostik

Der achtjährige Junge mit unauffälliger Allgemeinanamnese wurde von seiner Mutter erstmals im Mai 2015 an der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie vorgestellt. Als Hauptgrund der Konsultation wurden Schmerzen auf thermische Reizung an den ersten bleibenden Molaren angegeben. Zudem waren die Nahrungsaufnahme und das tägliche Zähneputzen erschwert. Nach eingehender klinisch-röntgenologischer Untersuchung (Abb. 1 bis 6) wurde die Diagnose einer Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation (MIH) gestellt. Die zum Teil fünfflächigen Kompositrestaurationen an den Molaren waren 15 Monate zuvor alio loco in Allgemeinanästhesie gefertigt worden und wiesen sowohl partielle Verluste als auch insuffiziente Füllungsränder auf. Diese Befunde sowie die anhaltende Symptomatik und die eingeschränkte Kooperations­fähigkeit führten zur Überweisung des Patienten. Neben dem Problem der MIH signalisierten die vorhandenen kariösen Läsionen im Milchgebiss ein erhöhtes Kariesrisiko.

Initiale Behandlungsphase

In Anbetracht des vorhandenen Kariesrisikos zielten die ersten Bemühungen auf die Etablierung einer zahngesunden Ernährung (Verzicht auf kariogene/erosive Getränke und Lebensmittel), einer regelmäßigen und altersgerechten Mundhygiene (systematische Reinigung aller Zahnflächen mit der KAI-Putztechnik) sowie einer indikationsgerechten Fluoridnutzung im häuslichen Umfeld (Einsatz einer fluoridhaltigen Junior-Zahnpasta, wöchentliche Applikation von Fluoridgelee) ab. Mit Blick auf den notwendigen Behandlungsbedarf und die eingeschränkte Kooperation des Achtjährigen wurden initial einfache, nicht bzw. wenig invasive Behandlungsmaßnahmen im zahnärztlichen Umfeld wie Zahnreinigungen oder Füllungsreparaturen umgesetzt. Alle nach der Tell-Show-Do-Methode alters- und situationsgerecht durchgeführten Maßnahmen zielten auf die schrittweise Verbesserung der Kooperationsfähigkeit ab. Aufgrund der ausgeprägten Hypomineralisationen beziehungsweise der bereits erfolgten umfangreichen Füllungs­therapien an den ersten bleibenden Molaren war dieses Behandlungsstadium durch ständig wiederkehrende partielle Verluste an den mehrflächigen, okklusionstragenden Kompositrestaurationen gekenn­zeichnet. Diese Phasen gingen regelmäßig mit erhöhten Sensibilitäten, einer eingeschränkten Kaufunktion und schlussendlich einer abnehmenden Compliance des Patienten einher. Letztlich wurde die Applikation von Lokalanästhetika immer weniger toleriert und die erforderliche An­algesie der betroffenen Zähne somit unmöglich.

Therapieplanung

Unter Verweis auf die grundsätzliche Erhaltungsfähigkeit der ersten bleibenden Molaren endete die initiale Behandlungsphase in dem Konsens zwischen Patient, Eltern und Zahnarzt, die betreffenden Zähne langfristig zu erhalten und eine Versorgungsform zu wählen, welche zu einer deutlichen Reduktion der nach wie vor bestehenden Schmerzhaftigkeit beziehungsweise erhöhten Sensibilitäten führen sollte. Komposite kamen hierfür wegen der zum Teil fünfflächigen Füllungslagen nicht mehr in Frage, so dass die Indikation für keramische (Teil-)Kronen gestellt wurde, um eine langfristige

Wiederherstellung der Zahnhartsubstanz umzusetzen. Mit Blick auf das Erfordernis einer möglichst ein­zeitigen Versorgung war die Nutzung des CAD/CAM- Fertigungsprozesses naheliegend. Da weiterhin alle Molaren in einer Sitzung versorgt werden sollten und eine Behandlung in Lokalanästhesie in naher Zukunft ausgeschlossen war, wurde die Indikation zur Durchführung der zahnärztlichen Therapiemaßnahmen in All­gemeinanästhesie gestellt. Im Rahmen der Sanierung sollten folgende Behandlungsziele erreicht werden:

  • konservierende Versorgung aller ersten bleibenden Molaren (Zähne 16, 26, 36 und 46) mit indirekt hergestellten keramischen (Teil-)Kronen,
  • Karies- bzw. Füllungstherapie am Zahn 55 sowie
  • Extraktion der Zähne 64 und 65.

Sanierung der hypomineralisierten Molaren

Zur Sicherstellung einer möglichst kurzen Behandlungszeit wurden im Raum für Eingriffe in Intubationsnarkose zusätzlich ein Intraoralscanner (Cerec Omnicam, Fa. Sirona, Bensheim) und eine Schleifeinheit (inLab MC XL, Fa. Sirona) platziert. Alle geplanten Therapieschritte wurden systematisch und halbseitig abgearbeitet. An den hypomineralisierten ersten bleibenden Molaren wurden zunächst die insuffizienten Restaurationen und vorhandene Sekundärkaries entfernt (Abb. 7 und 8). Die Sekundärpräparation erfolgte gemäß den Behandlungsgrundsätzen der Minimal­invasivität und den Empfehlungen zur Teilkronenpräparation. Der Substanzabtrag betrug im okklusalen Kontaktbereich etwa 1 bis 1,2 mm. An den Zähnen 26 und 37 wurde mit einem Elektrotom vorsichtig die Gingiva reduziert, um die Präparationsgrenzen optimal darzustellen. Die digitale Abformung der Zähne mit der Cerec Omnicam erfolgte quadrantenweise im Anschluss an die Freilegung der Präparationsgrenzen mittels Doppelfadentechnik (Abb. 9). Um eine parallele Herstellung der CAD/CAM-Restaurationen zu ermöglichen, wurde zunächst eine Kieferhälfte präpariert, digital abgeformt und anschließend erst mit den klinischen Arbeiten in der zweiten Hälfte begonnen. In der Zwischenzeit konnte ein weiterer Zahnarzt die ersten beiden Restaurationen mit der CAD-Software Cerec SW 4.4.2 (Fa. Sirona) konstruieren und mit der inLab MC XL schleifen (Abb. 10 bis 13).

Als keramisches Restaurationsmaterial wurde ein Werkstoff gewählt, welcher einen schnellen Substanzabtrag während des Fräsprozesses ermöglicht und zudem keinen zusätzlichen Glanz- bzw. Sinterbrand benötigt. Da beide Variablen die notwendige Zeiteffektivität bei der Behandlung in Allgemeinanästhesie beeinflussen, fiel die Wahl auf die zirkonoxidverstärkte Lithiumsilikatkeramik Celtra Duo (Dentsply DeTrey, Konstanz). Das Material und die Farbe (A2/LT-Rohling) waren bereits vor der Behandlung ausgewählt worden. Die Politur der Keramikrestaurationen wurde mit dreistufigen Komet-Keramikpolierkörpern (Brasseler, Lemgo) durchgeführt. An allen Restaurationen zeigten die Innenabformungen mit einem dünnfließenden Sili­kon (Xantopren, Heraeus Kulzer, Hanau) eine präzise Randpassung und einen gleichmäßigen Randspalt vor der Insertion. Neben der Randpassung wurden die Approximalkontakte und die Okklusion kontrolliert.

Der Einsetzprozess fand unter relativer Trocken­legung statt. Die Keramik wurde zuvor für 20 Sekunden mit Flusssäure (Vita Ceramics Etch, Fa. Vita, Bad Säckingen) geätzt und nach gründlicher Reinigung und Trocknung silanisiert (Monobond S, Fa. Ivoclar Viva­dent, Schaan, Liechtenstein). Die adhäsive Befestigung am Zahn erfolgte nach Säurekonditionierung für 15 Sekunden (Total Etch, Fa. Ivoclar Vivadent), Adhäsivauftrag (Syntac Classic, Fa. Ivoclar Vivadent) und Nutzung eines dualhärtenden Einsetzkomposits (Vario­link Esthetic DC neutral, Fa. Ivoclar Vivadent). Im Anschluss an die Versäuberung der Restaurationsränder wurde das Komposit über 40 Sekunden von allen Seiten mit einer LED-Lampe (Bluephase Style, Fa. Ivoclar Vivadent) polymerisiert (Abb. 14 bis 16).

Zur Vermeidung von Leerzeiten und unter Berücksichtigung der notwendigen Design- und Fräszeiten wurden die Zähne 16 und 46 sowie 26 und 36 separat voneinander präpariert und gescannt. Parallel zu den weiteren klinischen Arbeitsschritten erfolgten die

Konstruktion und das Fräsen der Restaurationen im Hintergrund. Zwischenzeitlich fanden die konservierende Versorgung der Zähne 54 und 55 sowie die Ex­traktion der Zähne 64 und 65 statt. Ergänzend ist anzumerken, dass die profunde Hypomineralisation am Zahn 46 mit einer großflächigen Pulpaeröffnung einherging. Aufgrund des noch nicht abgeschlossenen Wurzelwachstums wurde die Indikation zur Pulpotomie gestellt. Alle Behandlungsmaßnahmen konnten innerhalb von 3 1/2 Stunden vollständig abgeschlossen werden.

Verlaufskontrolle

Der Patient stellte sich wenige Tage post operationem zur Kontrolle vor. Hierbei wurden die Extraktionswunden untersucht, die statische und die dynamische Okklusion kontrolliert sowie Kontakte minimal eingeschliffen. Die vorerst letzte Kontrolluntersuchung fand 6 Monate post operationem statt (Abb. 17 bis 21). Zu diesem Zeitpunkt äußerte der Patient keine Beschwerden. Auch bestanden keine Hypersensibilitäten an den ersten bleibenden Molaren mehr, was sich in einer deutlich verbesserten Mundhygiene äußerte. Zudem ist seit der Sanierung eine schmerzfreie Nahrungsaufnahme gewährleistet.

Diskussion

Der vorliegende Fall steht stellvertretend für sechs- bis achtjährige Kinder, die ausgeprägte Zahnhartsubstanzdefekte infolge einer MIH aufweisen. Mit Blick auf die Anamnese und die nunmehr im Alter von neun Jahren erfolgte suffiziente Restauration der ersten bleibenden Molaren ist zuerst auf die mehrjährigen Einschränkungen in der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität des jungen Patienten zu verweisen. Neben der klinischen Symptomatik der überempfindlichen Molaren resultierte das Problem der MIH in einer frühzeitigen Füllungstherapie an den bleibenden Molaren, Kompromissbehand­lungen und einem wiederkehrenden Therapiebedarf, was die Kooperationsfähigkeit des Patienten bezüglich der notwendigen zahnärztlichen Behandlungen in erheblichem Maße herabsetzte7. Dieser Problemkreis indizierte innerhalb von zwei Jahren die Planung und Durchführung von zwei Zahnsanierungen in Allgemein­anästhesie. Erschwerend kommt hinzu, dass die ausgeprägten Hypomineralisationen große Anteile der Kauflächen betrafen und die Grenzen der Anwendung von Kompositmaterialien deutlich überschritten wurden. Dies illustriert exemplarisch sowohl die Probleme für die betroffenen Kinder und Familien als auch die eingeschränkten Behandlungsmöglichkeiten, die für den Zahnarzt eine große Herausforderung sind.

Unabhängig von dieser Herausforderung sollen nachfolgend die mittel- bzw. langfristigen Optionen zur Restauration von hypomineralisierten Zähnen mit einem Schmelzeinbruch diskutiert werden. Als Möglichkeiten stehen direkte Füllungsmaterialien, die konfektionierte Stahlkrone, die indirekte Restauration mit (Teil-)Kronen und die Extraktion der betroffenen Zähne zur Verfügung. Prinzipiell gilt der Einsatz adhäsiver Füllungsmaterialien auch bei der Primärversorgung hypomineralisierter Zähne als Therapie der Wahl22. Die Durchführung setzt jedoch eine gute Kooperation des Kindes voraus. Amalgame, Glasionomerzemente oder andere nicht adhäsiv befestigte plastische Restaurationsmaterialien sind aufgrund einer typischerweise fehlenden retentiven Kavitätenform als ungeeignet zu betrachten. Konfektionierte Stahlkronen können bei mehrflächigen Defektausdehnungen als mögliche Therapiealternative in Erwägung gezogen werden4. Diese Versorgungsform ist prinzipiell einfach durchführbar, wenig techniksensitiv und verhindert weitere Schmelzabbrüche bzw. -defekte. Allerdings muss auch auf den wesentlichen Nachteil bei einer späteren indirekten Restauration hingewiesen werden. Mit der in der Regel tief subgingival verlaufenden Tangentialpräparation an den Approximalflächen wird eine spätere definitive Versorgung deutlich eingegrenzt, da die Umsetzung aller adhäsiven Restaurationsformen aufgrund der subgingivalen Präparationsgrenzen nahezu ausgeschlossen ist. Nach Ansicht der Autoren sollte die konfektionierte Krone daher in der bleibenden Dentition allenfalls ohne Tangentialpräparation zur Anwendung kommen, was wiederum die Wahrscheinlichkeit für überstehende Kronenränder erhöht. Bedingt durch den nicht individualisierten Kronenrand sind des Weiteren parodontale Komplikationen6 möglich, und darüber hinaus gelten überstehende Kronenränder als potenzielles Eruptionshindernis für später durchbrechende Nachbarzähne. Zudem ist das ästhetische Ergebnis für viele Patienten bzw. deren Eltern nicht zufriedenstellend. Wegen der genannten Aspekte sollte der Einsatz konfektionierter Kronen an bleibenden Molaren restriktiv gehandhabt werden.

Eine ähnliche Bewertung erfährt die Therapieoption der Extraktion mit einem nachfolgenden kieferorthopädischen Lückenschluss17. Da zur Vorbeugung von Wachstumsdefiziten im Kieferbereich die Extraktion von ersten bleibenden Molaren optimalerweise erst kurz vor dem Durchbruch der zweiten bleibenden Mola­ren erfolgen sollte, bedarf diese Strategie auch immer des temporären Zahnerhaltes. Im klinischen Alltag bedeutet dies, dass den Kindern einerseits eine suffiziente restaurative Versorgung zwischen dem 6./7. und dem 10./11. Lebensjahr angeboten werden muss. Andererseits stellt gerade der Lückenschluss nach der Extraktion erster bleibender Molaren auch eine nicht unerhebliche Herausforderung für das Kind und den Kieferorthopäden dar. Dies würde noch erschwert, wenn mehrere Molaren betroffen und/oder Ausgleichsextraktionen indiziert wären. Lediglich in seltenen Fällen mit endodontischen Komplikationen erscheint aus unserer Erfahrung heraus das Ziel der Zahnerhaltung im kindlichen Alter oftmals nur erschwert umsetzbar.

Strategische Bedeutung der ersten Molaren berücksichtigen

In Anbetracht der mit den oben genannten Therapieoptionen verbundenen Unzulänglichkeiten und Herausforderungen muss die Versorgung mit laborgefertigten, individuell angepassten Restaurationen diskutiert werden. Bei objektiver Betrachtung der Konfiguration ausgeprägter MIH-Defekte können betroffene Zähne bzw. bleibende Molaren selbst mit gravierenden Defiziten beziehungsweise Schmelzeinbrüchen prinzipiell gut erhalten werden. Unter Verweis auf die strategische Bedeutung der ersten bleibenden Molaren für die Gebissentwicklung und Kaufunktion sollte dieser Therapieansatz eine hohe Priorität genießen. Obwohl der Einsatz mehrflächiger, okklusionstragender Kompositfüllungen grund­sätzlich möglich erscheint, muss gleichzeitig ausgeführt werden, dass mit zunehmender Restaurationsgröße die Wahrscheinlichkeit für (partielle) Verluste steigt. Daher haben mit Blick auf die Funktionalität und Langlebigkeit indirekt hergestellte Restaurationen insbesondere im Seitenzahngebiet ihre klare Berechtigung erlangt16. Aus heutiger Sicht stellt die keramische (Teil-)Krone in vielen Fällen die Versorgungsmöglichkeit der Wahl dar, welche gleichfalls zur zahnhartsubstanzschonenden Restauration hypomineralisierter Zähne bzw. Molaren bestens geeignet erscheint5,9.

Dem Einsatz indirekter Restaurationen steht in erster Linie der aufwendige klinische und labortechnische Aufwand entgegen, welcher die Kooperationsfähigkeit des kindlichen oder jugendlichen Patienten bislang in der Regel weit überstieg. Mit der Verfügbarkeit chairside- basierter CAD/CAM-Fertigungstechniken, die eine einzeitige und schnelle Herstellung indirekter Keramik­restaurationen ermöglichen2,24, scheint das Dogma der Nichtanwendbarkeit im Kindes- und Jugendalter jedoch etwas zu verblassen. Die Nutzung dieser Techniken setzt aber eine gute Kooperation des Patienten voraus oder kann nach kritischer Indikationsstellung in Allgemeinanästhesie erfolgen. Es sei hier allerdings explizit darauf hingewiesen, dass im vorliegenden Fall die Indikation zur Allgemeinanästhesie gestellt wurde, weil eine Therapie an den ersten bleibenden Molaren notwendig war und die Behandlung nicht in Lokalanästhesie durchgeführt werden konnte. Hervorzuheben ist außerdem, dass die Nutzung der CAD/CAM-Fertigung keramischer Teilkronen diese Entscheidung zu keinem Zeitpunkt beeinflusste. Erst in der Phase der detaillierten Therapieplanung wurde die indirekte Restauration als mögliche Alternative zur Kompositrestauration diskutiert, da die Entscheidung für den Zahnerhalt ohnehin mit einer späteren (Teil-)Kronenversorgung einhergehen würde. Nachdem initiale Überlegungen zur klinischen und technischen Realisierung die prinzipielle Machbarkeit ergeben hatten, wurde schlussendlich beschlossen, so vorzugehen. Die Machbarkeit beruhte dabei auf zwei grundsätzlichen Voraussetzungen. Erstens ermöglichte die räumlich flexible Nutzung des Cerec-Systems mit dazugehöriger Schleifeinheit den Aufbau im Eingriffsraum. Als zweiter relevanter Punkt ist die Verfügbarkeit von Industriekeramiken zu nennen, welche einen schnellen Substanzabtrag (Schleifzeit maximal 10 Minuten) erlauben, ohne im Anschluss noch einen Sinter- und/oder Glanzbrand durchlaufen zu müssen. Im Zusammenhang mit dem beschriebenen Prozedere muss nicht nur der technische, sondern auch der logistische und personelle Aufwand als hoch bezeichnet werden. Für die Durchführung aller zahnärztlichen und zahntechnischen Maßnahmen waren zwei Zahnärzte – ein Behandler sowie ein mit dem Design und der Fräsarbeit beschäftigter Kollege – notwendig, um ein paralleles Arbeiten zu ermöglichen und damit die Anästhesiezeit möglichst kurz zu halten. Auch wenn die benötigte Behandlungs- bzw. Anästhesiezeit von insgesamt 3 1/2 Stunden auf den ersten Blick lang erscheint, ist sie in Anbetracht des Umfangs der erfolgten Versorgung eher als kurz einzustufen.

Schlussfolgerungen für die Praxis

Der vorgestellte Fall demonstriert eindrucksvoll das Potenzial digitaler Fertigungsprozesse für die an­spruchs­­volle Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit MIH, wenn die Indikation für direkte Komposit­restaurationen überschritten ist. Sechs Monate nach der Therapie mit indirekten Keramikrestaurationen (vgl. Abb. 17 bis 21) ist der Patient beschwerdefrei. Zudem haben sich die Lebensqualität und die Kooperations­fähigkeit deutlich verbessert. Obwohl derzeit zu dem gewählten Vorgehen keine systematischen Langzeit­erfahrungen aus dem Kindes- und Jugendalter vor­liegen, deuten die bisher gesammelten Erfahrungen aus ähnlichen Fall­situationen auf ein gute Langzeitprognose hin18,21,25.

Ein Beitrag von Dr. med. Jan Pfisterer, Dr. med. dent. Andreas Keßler und Prof. Dr. med. dent. Jan Kühnisch, alle München

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Quelle: Die Quintessenz, Ausgabe 1/17 Restaurative Zahnheilkunde Digitale Zahnmedizin

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