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Von wegen Fette und Salz sind schuld – die steigenden Fallzahlen akuter und chronischer Wohlstandskrankheiten weltweit beruhen auf steigendem Zuckerkonsum

(c) shutterstock.com/ilona.shorokhova

Stomatologen und Zahnärzte, wie sie aus traditionellen und historischen Gründen in verschiedenen Teilen der Welt genannt werden, sind im Grunde genommen Ärzte, die sich auf das Studium und die Behandlung der Mundhöhle und der sie umgebenden Strukturen spezialisiert haben. Sie haben sich schon immer dadurch hervorgetan, dass sie vor allem wegen der direkten Zusammenhänge mit der Pathogenese von Karies eine Reduktion des Zuckerkonsums forderten. Inzwischen haben immer mehr Wissenschaftler, Epidemiologen sowie zahlreiche Ärzte und andere medizinische Berufsgruppen festgestellt, dass ein übermäßiger Zuckerkonsum auch mit der Zunahme zahlreicher relevanter systemischer Krankheiten assoziiert ist, wie Adipositas, Diabetes mellitus, Herz-, Leber- und Nierenerkrankungen sowie unzähligen Folgekrankheiten. Diese Entwicklung einer aktuellen Gesundheitskrise, die weltweit überall dort zu beobachten ist, wo traditionelle Ernährungsgewohnheiten durch die modernen Fastfood-Mahlzeiten ersetzt werden, denen in der Regel Unmengen verborgener, raffinierter Zucker zugesetzt werden, ist äußerst beunruhigend. Umso wichtiger ist es, dass Ärzte und Stomatologen weltweit ihre Bemühungen verstärken, den exzessiven Konsum von zugesetzten, extrinsischen, sekundären oder verborgenen Zuckern in Speisen und Getränken zu reduzieren oder sogar zu eliminieren. Dadurch wird nicht nur die Kariesinzidenz zurückgehen, sondern zudem die Häufigkeit vieler anderer systemischer und Organerkrankungen, die mit zugesetzten Zuckern assoziiert sind und auch viele orale Krankheiten verschlimmern. Dieser Review aus der Parodontologie 2/19 (Erstveröffentlichung im „Chinese Journal of Dental Research“) informiert über die Geschichte des Zuckers, das derzeitige Verständnis des Zuckerstoffwechsels sowie die zunehmende Literatur und Forschung zu den Folgen des Zuckerkonsums für die orale und die allgemeine Gesundheit, da die Mundhöhle nicht isoliert vom Körper betrachtet werden kann und umgekehrt. Der Autor hofft, damit den Anstoß für weitere wissenschaftliche Untersuchungen auf diesem Gebiet zu geben, die zu verschiedenen positiven Entwicklungen in der Lebensmittel- und Getränkeindustrie führen und die Interessenvertreter davon überzeugen, sich dieser allgegenwärtigen Gesundheitskrise zu stellen, die eng mit dem übermäßigen Konsum von zugesetztem Zucker in all seinen Formen assoziiert ist.

Artikel erstveröffentlicht im „Chinese Journal of Dental Research“. Die Zeitschrift ist die offizielle Publikation der Chinesischen Stomatologischen Gesellschaft und unterliegt dem Peer-review-Verfahren. Sie veröffentlicht Originalartikel, Kurzmitteilungen, eingeladene Reviews und Falldarstellungen auf allen Gebieten der Zahnmedizin.

Die Zeitschrift „Parodontologie“ vermittelt dem interessierten Zahnarzt in Praxis und Klinik die neuesten Erkenntnisse, Entwicklungen und Tendenzen auf dem Gebiet der Parodontologie. Die hochwertige Ausstattung mit vielen, meist farbigen Abbildungen und der ausgeprägte Fortbildungscharakter sprechen für diese Fachzeitschrift. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.

Einleitung

Für tausende von Jahren enthielt die Nahrung von Menschen nur minimale Mengen zugesetzter raffinierter Zucker. Dies änderte sich, als die Zuckernachfrage in Europa mit der Entdeckung des amerika­nischen Kontinents und der Kolonisierung entlegener Gegenden durch die europäischen Machthaber zunahm. Die wachsende Industrie bediente sich überwiegend schwarzer Sklaven­arbeiter. Die Europäer segelten nach Westafrika, entführten und kauften Sklaven, die sie zu vielen der karibischen Inseln sowie später nach Brasilien sowie Mittel- und Nordamerika brachten, wo viele arbeitsintensive Zuckerplantagen angelegt wurden. Anschließend wurde das Produkt zurück in das zuckerhungrige Europa transportiert. Später ermöglichte die industrielle Revolution einen Wandel weg von der Muskelkraft und hin zu Dampf-, Mineralöl- und elektrischen Antrieben. Es folgte die billige Massenproduktion von Zucker. Der gewohnheitsmäßige Konsum von Zucker­zusätzen in Speisen und Getränken ist aber eine in der Geschichte des Menschen recht neue Entwicklung. Sie begann erst vor etwa 200 Jahren und hat seitdem bis heute stetig zugenommen: Die Industrie produziert jährlich bis zu 25 kg raffinierten Zucker pro Kopf für jede Frau, jeden Mann und jedes Kind. Dies summiert sich auf 180 Mil­lionen Tonnen Zucker pro Jahr, was weltweit 17 Teelöffeln voll Zucker täglich pro Person entspricht. Der primäre Wert des Zuckers beträgt
200 Milliarden US-Dollar pro Jahr; daraus ergibt sich durch die Weiterverarbeitung in der Nahrungsmittelindustrie ein Wert von bis zu 4 Billiarden US-Dollar jährlich. Ein derart hoher Verbrauch von einer Zutat, die viele Ärzte und Ernährungswissenschaftler als physiologisch unnötig in der menschlichen Ernährung einstufen, ist beunruhigend, und es gibt Belege dafür, dass dies maß­geblich zur Häufigkeitszunahme vieler akuter und chronischer Wohlstandskrankheiten beisteuert.

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Historisch stieg die Inzidenz von Karies mit dem Anstieg des Zuckerkonsums1–3. Im Jahr 2014 wurde auf dem New Delhi FDI World Dental Congress eine Grundsatzerklärung mit dem Titel „Frühkindliche Karies“ diskutiert. Im Zuge dieser Diskussion stellte der Autor dieses Artikels entsetzt fest, dass alle möglichen Aspekte angesprochen wurden, nur nicht eine der Hauptursachen der frühkindlichen Karies – der exzessive Zuckerkonsum! Nachdem der Autor diesen Punkt angesprochen hatte, wurde er aufgefordert, zu diesem Punkt eine Erklärung zu verfassen, die zusätzlich aufgenommen werden sollte. Anschließend wurde auf dem FDI AWDC (Word Dental Federation Annual World Dental Congress) 2014 folgende Erklärung aus Malaysia in die FDI-Grundsatzerklärung „Perinatale und frühkindliche orale Gesundheit“ übernommen: „Eltern, Schulen, Gesundheitsministerien und Interessenvertreter sollten sich gemeinsam darum bemühen, die Aufnahme von Zucker in all seinen Formen zu reduzieren“4.

Nach diesem Versuch organisierte das FDI AWDC 2015 in Bangkok ein World Oral Health Forum über die neuen WHO(World Health Organisation)-Leitlinien zum Zuckerkonsum für Erwachsene und Kinder. Die neue Leitlinie für die Zuckeraufnahme durch Erwachsene und Kinder besagt, dass der Energiebeitrag durch freien Zucker in all seinen Formen von derzeit 10 bis 16 % auf höchstens 5 % reduziert werden sollte. Praktisch ergibt sich daraus als Faustregel die Zufuhr von nur 5 Teelöffeln Zucker täglich pro Person. Dies wirft sofort das Problem auf, wie das erreicht werden kann, da die gesamte Welt seit 100 Jahren zuckersüchtig ist, dieser Trend weiter zunimmt und rasch nicht nur zu einer Häu­figkeitszunahme von Karies führte, sondern auch von Adipositas, Diabetes mellitus und ihren Folge­erkrankungen1,5,6. Dieser globale gesundheit­liche Notstand muss bewältigt werden. Aber wie?

Zuckerstoffwechsel

Über den Zuckerstoffwechsel herrscht folgender Konsens7,8:

  • Zucker wird vor allem in Form von zugesetztem oder nicht zugesetztem Zucker aufgenommen. Zugesetzter (extrinsischer, sekundärer) Zucker wird Speisen und Getränken beigefügt. Nicht zugesetzter (primärer, intrinsischer) Zucker tritt natürlich in Lebensmitteln, wie Obst, Gemüse und Fleisch, auf.
  • Zucker sind einfache Monosaccharide, wie Glukose, Fruktose und Galaktose, sowie komplexe Disaccharide, wie Maltose, Saccharose und Laktose.
  • Beim „Zuckerstoffwechsel“ wird die in der Nahrung enthaltene Energie dem Körper als Kraftstoff zur Verfügung gestellt. Die Körperzellen gewinnen aus Glukose direkt Energie. Auch Fettsäuren können als Energielieferanten verwendet werden, allerdings nur indirekt und über einen länger dauernden Prozess.
  • Der Körper kann Glukose direkt verwenden, während andere Zucker und Kohlenhydrate erst in Glukose umgewandelt werden müssen, damit der Körper sie nach dem Umbau in ATP (Adenosintriphosphat) zur Energiegewinnung nutzen kann.
  • Nicht sofort verwendete Glukose wird in Form von Glykogen in den Muskeln und dem Fettgewebe der Leber und anderer Körperbereiche gespeichert. Fruktose wird in der Leber rasch in Fett umgewandelt.
  • Der Blutzuckerspiegel wird vor allem von drei Hormonen gesteuert: Glukagon, Insulin und Adrenalin. Dieser sehr komplexe Prozess wurde auch weiterhin noch nicht vollständig aufgeklärt. Glukagon fördert in Muskeln und Leber den Umbau von Glykogen zu Glukose. Insulin fördert die Aufnahme von Glukose in die Zellen. Bei sinkendem Insulinspiegel steigen die Spiegel von Glukagon und Adrenalin und es wird mehr Glukose von der Leber freigesetzt. Gleichzeitig steigen die Spiegel von Kortisol und Wachstumshormonen, welche die Sensitivität der Körpergewebe (Muskeln und Fettgewebe) gegen Insulin reduzieren. Dadurch steht im Blut mehr Glukose zur Verfügung. Adrenalin fördert die Glukosefreisetzung aus der Leber weiter, die wiederum durch die Serumspiegel von Wachstumshormonen und Kortisol beeinflusst wird, die Muskeln und Fettgewebe gegenüber Insulin desensibilisieren. Die Folge ist ein weiterer Anstieg des Blutzuckerspiegels und ein möglicher Übergang in einen Diabetes mellitus Typ 2.
  • Die nicht zugesetzten oder intrinsischen Zucker treten natürlich in Obst, Gemüse und Fleisch auf und werden als Teil der Nahrung aufgenommen; eine Frucht enthält auch Fasern und andere Nährstoffe. Bis zu 30 % dieser Zucker werden nicht resorbiert, sondern von Darmbakterien verstoffwechselt.
  • Im Gegensatz dazu gelangen zugesetzte oder extrinsische Zucker in kalten, kohlensäurehaltigen Getränken als Zuckerrausch direkt ins Blut und fordern sofort die homöostatischen Mechanismen des Körpers heraus, um den Blutzuckerspiegel im Normalbereich zu halten. Wenn diese Provokation ständig besteht, kann sie die homöostatischen Mechanismen des Körpers überfordern, sodass der Blutzuckerspiegel steigt und die Weichen für die Entwicklung eines Diabetes mellitus gestellt werden.
  • Außerdem gibt es Berichte, wonach Zucker das Sättigungszentrum im Gehirn unterdrückt, sodass immer weiter gegessen wird, weil dem Betroffenen weiterhin ein Hungergefühl vorgegaukelt wird, obwohl er eigentlich satt ist.
  • Die aktuelle WHO-Leitlinie zur Aufnahme von zugesetztem Zucker besagt, dass er höchstens 5 % der täglichen Kalorienmenge ausmachen sollte. In der Praxis bedeutet das, dass maximal 5 Teelöffel voll zugesetztem Zucker täglich konsumiert werden sollten. Wichtig ist, dass eine Dose Limonade 10–15 Teelöffel Zucker enthält. Daraus wird schnell deutlich, was unternommen werden muss, um die Inzidenz des Diabetes mellitus Typ 2 zu reduzieren.

Geschichte des Zuckers

Zucker lässt sich mehrere tausend Jahre zurückverfolgen bis zur Insel Neuguinea, wo die Eingeborenen voller Genuss auf einem Gras kauten, dass wir heute als Zuckerrohr kennen. Etwa 1.000 v. Chr. erreichte es den asiatischen Kontinent. Etwa 500 v. Chr. wurde es in Indien zu einem Pulver verarbeitet und konsumiert und in kleinen Mengen als Medizin bei Kopfschmerzen, Bauchweh und Impotenz eingesetzt. Anschließend verbreitete sich der Zuckerkonsum bis nach Persien und Arabien und zu den Kreuzrittern, die aus Europa einreisten, um das Heilige Land zu verteidigen. Die Araber entwickelten die Kunst, daraus Marzipan zu machen, eine köstliche Mischung aus Mandeln, Zucker und Eiern. Ab 1.500 n. Chr. stieg die Nachfrage in Europa und ganze Inseln der neuen Welt, wie Barbados, Jamaika und viele der Karibikinseln, waren voller Zuckerrohrplantagen. Dies wiederum führte im Laufe der Jahre zur Entführung und Versklavung von Millionen Afrikanern, die auf den arbeitsintensiven Plantagen eingesetzt wurden. Mit zunehmender Produktion sanken die Preise, sodass Zucker zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht länger ein Luxusgut der Reichen war, sondern ein Grundnahrungsmittel. In Europa stieg der Zuckerkonsum von jährlich 2 kg im 18. Jahrhundert auf 50 kg jährlich im 20. Jahrhundert. Um 1900 litten etwa 5 Prozent der Menschen unter Bluthochdruck, der heute 33 Prozent der Weltbevölkerung betrifft, während der Zuckerkonsum in vielen Industrie- und Entwicklungsländern auf bis zu 100 kg pro Kopf und Jahr aufgeblasen wurde. Diese Zunahme des Zuckerkonsums verläuft pa­rallel zum Anstieg der Inzidenz von Adipositas, die wiederum eng mit einem Anstieg des Diabetes mellitus und seinen Folgekrankheiten assoziiert ist.

Eine schicksalhafte Entscheidung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 nahm die Inzidenz von Herzinfarkten allmählich zu. Der amerikanische Präsident Dwight Eisenhower erlitt 1955 im Alter von 55 Jahren einen Myokardinfarkt. Dies gab den Anstoß für eine Untersuchung der Ursache der Herzerkrankung durch die Gesundheitsbehörden. Der allseits bekannte und renommierte Arzt und Ernährungswissenschaftler Ancel Keys, der die K-Rationen der US-Armee eingeführt hatte, stellte eine Studie vor, wonach Fette und Cholesterin an der Herzkrankheit Schuld seien. Die schicksalshafte Entscheidung, welche die Schuld für die Herzerkrankung noch weiter vom Zucker wegrückte, wurde 1964 getroffen. Eine als Sugar Association bekannte Gruppe verabschiedete das Projekt 226, das an der Harvard University einen Artikel über die negativen Einstellungen gegenüber Zucker finanzierte. Dieser Harvard-Artikel wurde 1967 veröffentlicht und kam zu dem Schluss, dass zur Prävention von Herzerkrankungen zweifelsfrei die Zufuhr von Cholesterin und gesättigten Fettsäuren reduziert werden müsse, während die über Zucker durchgeführten Studien verharmlost wurden. Dieser Bericht wurde im New England Journal of Medicine veröffentlicht. Er dürfte die allgemeine Meinung dahingehend beeinflusst haben, dass Fette und Cholesterin und nicht Zucker als Hauptfaktoren für den Häufigkeitsanstieg der Herzkrankheit beschuldigt wurden – zumindest bis vor Kurzem, als Fette und Öle als daran unschuldig eingestuft wurden und festgestellt wurde, dass wohl eher der Zucker verantwortlich ist. Die Effekte dieses Artikels überrumpelten die zahnmedizinische Industrie, deren Fokus nun auf der Behandlung zuckerbedingter Zahnerkrankungen lag und nicht auf der Prävention. Es wurde fluoridiertes Wasser, fluoridhaltige Mundspülungen, Zahnpasten und Zahngele, Fissurenversiegelungen, immer bessere Füllungsmaterialien etc. entwickelt und vermarktet. Die Schuldzuweisung an Fette und Öle wurde weiter zementiert, als das Senate Committee, geleitet von George McGovern, das Meilensteinpapier „Ernährungziele in den USA“ veröffentlichte, das die Menschen dazu drängte, den Konsum von Fetten, rotem Fleisch, Eiern und Molkereiprodukten zu reduzieren. Dieses zunehmende Verlangen nach fett- und cholesterinarmen Produkten rief eine ganz neue Lebensmittel- und Getränkeindustrie ins Leben; daher finden sich heute auch nicht nur in den USA sondern weltweit überall fett- und cholesterinreduzierte Produkte.

Die erschreckende Enthüllung der Beteiligung der Zuckerindustrie an der Irreführung der Öffentlichkeit durch die Harvard-Studie machte die Wissenschaftlerin Dr. Cristin Kearns an der University California San Francisco im Jahr 2012. Darüber wurde in allen großen Zeitschriften der USA, auch der New York Times berichtet. Seitdem wurde die Behauptung, Fette und Butter seien die Hauptursache von Herzerkrankungen, als falsch entlarvt, was in einem Artikel des Time Magazine kulminierte, der Fette und Butter von dem Vorwurf freisprach2,9–14.

Folgen für die orale Gesundheit

Viele Millionen Menschen haben unter den Konsequenzen ungehemmten Zuckerverzehrs genauso sehr, wenn nicht schlimmer, gelitten, wie unter den Folgen des Tabakkonsums. Die weltweite epidemische Zunahme der Inzidenz von Adipositas und Diabetes mellitus mit nachfolgender Herzkrankheit und anderen Erkrankungen in den vergangenen 30 Jahren lässt sich bis zu dieser schicksalshaften Entscheidung der Lebensmittel- und Getränkeindustrie von 1964 zurückverfolgen. Inzwischen gibt es nicht nur für Karies, sondern auch für Adipositas, koronare Herzkrankheit, Diabetes mellitus und Lebererkrankungen robuste Belege für einen Zusammenhang mit übermäßigem Zuckerkonsum. Die Fluoridierung des Trinkwassers reduziert die Kariesinzidenz um bis zu 50 Prozent. Der kontinuierliche hohe Zuckerkonsum ist jedoch die Hauptursache für die anderen 50 Prozent an kariösen Zähnen. Ein höherer Zuckerkonsum verursacht zudem Karies bei geringer fluoridierten Zähnen, die andernfalls keine Karies entwickeln würden. Der Einfluss von Diabetes mellitus auf die orale Gesundheit ist gut bekannt. Er exazerbiert die Schwere einer vorhandenen Parodontalerkrankung und beschleunigt deren Verlauf, sodass mehr Zähne mobil werden und früher verloren gehen – mit negativen Folgen für Ernährung und Gesundheit. Ein früher Zahnverlust hat durch das schlechtere äußere Erscheinungsbild und das verminderte Selbstvertrauen auch psychische Folgen und beeinträchtigt dadurch die mentale Gesundheit und die Produktivität der Betroffenen. Heute gehen die meisten Zähne aufgrund von chronischen Parodontalerkrankungen verloren, die durch Diabetes mellitus beschleunigt und verschlimmert werden, der wiederum mit einem hohen Zuckerkonsum zusammenhängt5,15–18.

Folgen für die allgemeine Gesundheit und Umwelt

Es besteht eine enge wechselseitige Beziehung zwischen der oralen und der allgemeinen Gesundheit. Die WHO-Leitlinie zum Konsum von zugesetztem Zucker stellt klar, dass nicht zugeführter Zucker, der intrinsisch und natürlich in Lebensmitteln vorkommt, für eine gute Gesundheit ausreicht und angemessen ist. Die Botschaft lautet somit, dass zugeführter extrinsischer Zucker für Ernährung und Gesundheit überflüssig ist7,8,19.

Die Zuckerindustrie blickt auf eine lange Geschich­te zurück, die sich früher vor allem auf Sklaven­arbeit stützte. Heute werden für den Zucker­anbau große Regenwaldgebiete am Amazonas und Wälder in anderen Regionen der Welt zerstört, damit fast allen unseren Lebens­mitteln und Getränken Zucker zugesetzt werden kann. Wenn man darüber genauer nachdenkt, kostet uns die Zuckerproduktion und die Zugabe von Zucker in unsere Lebensmittel und Getränke sowie die Behandlung der dadurch entstehenden Krankheiten mehrere Milliarden US-Dollar; und das alles für ein Produkt, das für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden nicht erforderlich ist.

Selbst die Rechtfertigung, damit die Speisen schmackhafter machen zu wollen, ist nicht stichhal­tig. Studien haben gezeigt, dass Zucker uns daran hindert, die verschiedenen Aromen und Konsistenzen der Speisen zu genießen. Die zu­nehmende Ver­wendung von Zuckerzusätzen war zudem das Resultat eines Schachzugs der Zucker­industrie, bei dem Fetten und Ölen vor 50 Jahren die Schuld an Herzerkrankungen zugewiesen wurde. Dadurch haben die Menschen überall auf der Welt im Lauf der Jahre ihren Konsum an Fetten und Ölen reduziert, bis vor Kurzem öffentlich erklärt wurde, dass es sich dabei um ein Versehen gehandelt hatte und natürliche Fette und Öle nicht mehr als riskant eingestuft wurden. Aber der Schaden war bereits angerichtet. Fette und Öle machen Speisen schmackhafter. Und was glauben Sie, musste nach deren Reduktion zugegeben werden, um die Speisen schmackhaft zumachen? Genau – noch mehr Zucker und mehr Salz, insbesondere bei hochverarbeiteten und abgepackten Lebens­mitteln. Diese zunehmende Zugabe von Salz und Zucker zu den Lebensmitteln, insbe­sondere zu Fast Food und abgepackten Nahrungs­mitteln, fällt in denselben Zeitraum wie der Anstieg der In­zidenzen von Adipositas, Diabetes mellitus, Hyper­tonie und anderen chronischen Wohlstandskrankheiten.

Die nicht übertragbaren Krankheiten, für die ein enger Zusammenhang mit dem Zuckerkonsum besteht, sind Adipositas, kardiovaskuläre Er­kran­kun­gen, Gicht, Diabetes mellitus, peptische Ulzera, Hiatushernien, Gallensteine, Morbus Crohn/Reizdarmsyndrom, Karies, Dermatitis, Gelenkerkrankungen, Lebererkrankungen, Krebserkrankungen sowie negative Effekte auf Wachstum, Reifung und Langlebigkeit3,4,15,16,20,21.

Weltweit lassen sich schätzungsweise 180.000 Todesfälle jährlich auf den Konsum von gezuckerten Getränken zurückführen, darunter 133.000 durch Diabetes mellitus, 44.000 durch kardio­vaskuläre Erkrankungen und 6.000 durch Krebs­erkrankungen21,22.

Tatsächliche Kosten von Zucker für die Gesundheit

Die wahren weltweiten Kosten von Zucker ergeben sich aus den Ausgaben für die Menschen, den Planeten und die Produktivität. Die Kosten für die Menschen hängen eng mit der Zunahme von Adipositas zusammen, für die wiederum ein enger Zusammenhang mit Diabetes mellitus besteht. In den vergangenen 35 Jahren hat sich der Anteil der an Diabetes mellitus erkrankten Menschen weltweit von 4 Prozent auf 8 Prozent verdoppelt23.

Prof. Goodarz Danaei, Co-Autor der Studie und Assistenzprofessor für Global Health an der Harvard Chan School, sagte: „Der wichtigste Risikofaktor für einen Diabetes mellitus ist die Adipositas. Trotzdem geraten die globalen Inzidenzen der Adipositas außer Kontrolle“.

Die Anzahl an Erwachsenen mit Diabetes mellitus ist weltweit von 108 Millionen im Jahr 1980 auf 422 Millionen im Jahr 2014 gestiegen. Am stärksten stiegen die absoluten Zahlen in Ostasien und Südasien, die damit 2014 auch den höchsten Anteil von Diabetikern in der Bevölkerung hatten. In Ländern wie Malaysia stieg der Anteil rasch von 12 Prozent im Jahr 2006 auf 17 Prozent im Jahr 2017 und wird weiter anwachsen. Dieser Trend findet sich auch in vielen Entwicklungsländern und Ländern mit mittleren Einkommen24.

Im Jahr 1990 wiesen 15 Prozent der US-amerikanischen Erwachsenen eine Adipositas auf. Im Jahr 2010 waren 25 Prozent adipös, 2019 waren es 40 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung. Die Ausgaben der US National Healthcare betragen jährlich mehr als 3 Billionen US-Dollar. Davon werden 30 - 40 Prozent oder etwa 1 Billion US-Dollar für Beschwerden durch den übermäßigen Zuckerkonsum ausgegeben.

Im Jahr 2016 behauptete ein Bericht der Harvard TH Chan School of Public Health, dass die globalen Kosten des Diabetes mellitus jährlich 825 Milliarden US-Dollar erreichten25. Dasselbe Team berechnete auch die jährlichen Kosten des Diabetes mellitus – einschließlich der Ausgaben für die Behandlung und das Management der Krankheit und ihrer Komplikationen, zum Beispiel Amputationen. Die Berechnung erfolgte in International Dollars. Die globalen Kosten betrugen 825 Milliarden Dollar jährlich. Die höchsten Kosten fielen in China (170 Mrd. Dollar), den USA (105 Mrd. Dollar) und Indien (73 Mrd. Dollar) an. Die Autoren fügten hinzu, dass die krankheitsbedingt ausgefallenen Arbeitstage nicht in die Berechnung eingeflossen waren, andernfalls wären die Zahlen noch weitaus höher ausgefallen25.

Zahnerkrankungen sind eine hohe Kostenbelastung der Gesundheitsfürsorge. Die Kariesbehandlung ist für die Regierungen von Industriestaaten und Entwicklungsländern gleichsam teuer und macht in den Industrienationen 5 - 10 Prozent der Gesamtausgaben im Gesundheitssektor aus. Damit ist sie teurer als die Therapie von kardiovaskulären Erkrankungen, Krebserkrankungen und Osteoporose. In den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern ist die Prävalenzrate von Karies hoch und sie bleibt in mehr als 90 Prozent der Fälle unbehandelt.

Die Gesamtkosten für die Behandlung von Zahn­erkrankungen wurden 2010 weltweit auf 450 Mrd. US-Dollar geschätzt. Im Jahr 2017 stiegen die Kosten auf fast 500 Milliarden US-Dollar. Würde nur die Hälfte davon für die Behandlung von Karies und ihren Folgekrankheiten aufgewendet, wären das 250 Milliarden US-Dollar. Ließe sich auch nur die Hälfte der Kariesfälle auf den Zuckerkonsum zurückführen, könnten weltweit potenziell 250 Milliarden US-Dollar allein schon dadurch gespart werden, dass der freie extrinsische Zucker aus der Ernährung des Menschen entfernt wird.

Adipositas als eine chronische Stoffwechselkrankheit

Die Lösung besteht wohl nicht darin, weniger zu essen und sich mehr zu bewegen, sondern vermutlich nur darin, den zugesetzten Zucker aus der Ernährung zu eliminieren! Die Adipositas- und Kariesepidemie ist nicht die Schuld der Öffentlichkeit, sondern Folge einer absichtlichen, selbstsüchtigen, profitorientierten Entscheidung gieriger Geschäftsleute, den Verantwortlichen der Zuckerindustrie – und die Welt ist darauf reingefallen. Im Jahr 2017 kam es zu mehr vermeidbaren Todesfällen durch Adipositas als durch Rauchen. Im Jahr 1990 waren 15 Prozent der US-amerikanischen Erwachsenen adipös. Dieser Anteil stieg im Jahr 2010 auf 25 Prozent an. Er beträgt derzeit 40 Prozent der Erwachsenen und 17 Prozent der Kinder und Jugendlichen. Diese Zahlen zeigen dem Rest der Welt, wo uns das hinführt, wenn wir nichts dagegen unternehmen22.

Zucker erhöht den Insulinspiegel, der wiederum zu mehr Hunger führt und zum Verzehr zu großer Nahrungsmengen. Außerdem unterdrückt Zucker das Sättigungszentrum im Gehirn, sodass noch mehr gegessen wird. Doppeltes Pech! Die Insulinspiegel der heutigen Bevölkerung liegen dreimal höher als noch in den 1980er Jahren. Die industrielle Ernährung, die auch als moderne hochverarbeitete Nahrung bezeichnet wird, kostet die Welt Billiarden von Dollar.

Fazit

Warum leiden wir, geben so viel Geld dafür aus und erlauben die Verwüstung von Menschen, Produktivität und Umwelt durch den Konsum einer Zutat, die für die menschliche Ernährung, die Gesundheit und vermutlich auch für gute, geschmackvolle Speisen unnötig ist? Vorbeugen ist immer besser als heilen. Zwar müssen wir die bereits durch den Zuckerkonsum entstandenen Krankheiten behandeln, trotzdem müssen wir aber damit beginnen, einen Plan aufzustellen, um den Verzehr von zugesetztem Zucker in all seinen Formen zu reduzieren und ihn schlussendlich ganz zu eliminieren.

Ein Teelöffel Zucker entspricht 4 g Zucker, 1 g Zucker hat 4 kcal. Somit hat ein Teelöffel Zucker 16 kcal. Der Energiebedarf eines Erwachsenen beträgt täglich 2.500 kcal und die WHO empfiehlt, dass nur 5 Prozent davon aus zugesetztem Zucker stammen sollten. Das entspricht 125 kcal oder 30 g Zucker und somit 8 Teelöffeln Zucker, womit 5 Prozent vermutlich schon ein Zugeständnis sind. Die unausgesprochene Empfehlung scheint zu sein, dass wir keinen Zuckerzusatz benötigen – und das sollte das Ziel sein.

Sollten wir uns nun ernsthaft überlegen, eine Dauerkampagne zum Beenden des Zuckerkonsums ähnlich der gegen das Rauchen laufenden Kampagne ins Leben zu rufen? Sollten wir Zuckerkonsum besteuern? Sollten wir Schulungsprogramme für alle Bereiche erstellen?

Die WHO empfiehlt Maßnahmen, wie die klare Darlegung des Zuckergehalts, Restriktionen beim Marketing von Nahrungsmitteln und Getränken für Kinder mit hohem Zuckergehalt und einen Dialog mit den Lebensmittelproduzenten, damit sie den Anteil von freiem Zucker in hochverarbeiteten Lebensmitteln reduzieren. Was auch immer wir machen werden, es darf nicht länger warten. Wir sollten uns sofort diesem wichtigen Kampf stellen, weil er die weltweite Gesundheit verbessern und Milliarden bis Billiarden Dollar an Gesundheitsausgaben einsparen kann26.

Ein Beitrag von Dr. Kai Foo Chow, Kuala Lumpur, Malaysia

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Reference: Parodontologie Prävention und Prophylaxe Zahnmedizin

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