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Dissertation zeigt Nachholbedarf in Deutschland auf – neues europäisches Forschungsprojekt entwickelt konkrete Lehrpläne

Mit dieser Geste – dem in der Handfläche von den Fingern umschlossenen Daumen – können Opfer häuslicher Gewalt auf ihre Situation aufmerksam machen, wenn sie nicht sprechen können oder wollen.

(c) MPSTUDIO/Shutterstock.com

Insbesondere Zahnärztinnen und Zahnärzte könnten einen wichtigen Beitrag beim Erkennen häuslicher Gewalt und damit für eine bessere Hilfe für Gewaltopfer leisten. Das wird heute noch zu wenig berücksichtig und es fehlt auch an einer strukturierten Aus- und Fortbildung zu diesem Thema. Ein neues europäisches Forschungsprojekt an der Universität Münster will das jetzt ändern – die Grundlagen dafür liefert unter anderem eine zahnmedizinische Dissertation.

Die jüngst veröffentlichten Zahlen sind alarmierend: Nach Angaben des Bundeskriminalamts vom 11. Juli 2023 gab es im vergangenen Jahr mehr als 143.000 Opfer von häuslicher Gewalt. In den vergangenen fünf Jahren sind die Opferzahlen um insgesamt 3,4 Prozent gestiegen. Die Dunkelziffer stufen Expertinnen und Experten weitaus höher ein.

Dass häusliche Gewalt ein massives gesellschaftliches Problem ist, steht somit außer Frage. Ein Aspekt, der in der Öffentlichkeit dagegen bislang wenig Aufmerksamkeit erhalten hat, ist die Bedeutung und Rolle von Zahnärztinnen und Zahnärzten beim Erkennen von Opfern häuslicher Gewalt. Für Dr. Jana Bregulla von der Universität Münster kommt dieser Befund wenig überraschend. In ihrer Dissertation „Die Rolle des zahnärztlichen Berufsstandes bei der Aufdeckung von häuslicher Gewalt“ fand sie heraus, dass trotz der Brisanz des Themas wissenschaftliche Studien, die den Zusammenhang zwischen der zahnmedizinischen Versorgung und häuslicher Gewalt untersuchen, rar sind – im deutschsprachigen Raum sogar nicht existent. „Es fehlt den Zahnärzten an grundlegenden Kenntnissen über die Anzeichen häuslicher Gewalt, wie sie entsprechende Fälle richtig dokumentieren, wie sie mit den Opfern kommunizieren und ihnen professionell helfen können“, erklärt die Medizinerin.

Foto: UKM/Marcus Heine
Dr. med. dent. Jana Bregulla studierte von 2014 bis 2019 Zahnmedizin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und erhielt die zahnärztliche Approbation im Dezember 2019. Vom Juni 202 bis November 2022 schloss sich ein Promotionsstudium an der Universität Münster an der Klinik für Radiologie, Arbeitsgruppe Cognition&Gender, unter der Leitung von Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Bettina Pfleiderer an.
Ihre Dissertation „Die Rolle des zahnärztlichen Berufsstandes bei der Aufdeckung von häuslicher Gewalt“ ist auch Grundlage des Beitrags Bregulla, JL, Hanisch, M, Pfleiderer B: Dentists’ Competence and Knowledge on Domestic Violence and How to Improve It—A Review. Int. J. Environ. Res. Public Health 2022, 19(7), 4361.

Jana Bregulla ist jetzt als Zahnärztin in der Zahnklinik des Universitätsklinikums Münster, Poliklinik für prothetische Zahnmedizin und Biomaterialien (Leitung Univ. -Prof. Dr. med. dent. Petra Scheutzel) tätig.

Erfahrungen aus anderen Ländern positiv

Eine zum ersten Mal durchgeführte qualitative Begutachtung der wenigen existierenden Studien[1] zeigt auf, dass einige Länder bereits Maßnahmen zur Erkennung und Behandlung von Opfern häuslicher Gewalt umsetzen. „Empirische Studien an einer US-amerikanischen zahnmedizinischen Hochschule zeigen beispielsweise auf, dass gezielte Vorlesungsmodule das Wissen der Studierenden über die gesundheitsbezogenen traumatischen Ereignisse vergrößern und ihr Selbstvertrauen bei der Behandlung von Opfern verbessern“, sagt Jana Bregulla, die in der Poliklinik für Prothetische Zahnmedizin und Biomaterialien des Universitätsklinikums Münster als Zahnärztin arbeitet. „Für Deutschland sehe ich großen Aufholbedarf – einige der Studien könnten daher als Best-Practice-Beispiele dienen.“

Hemmungen abbauen, Kommunikation verbessern

Dreh- und Angelpunkt sei die Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Zahnärzte hätten oft falsche Vorstellungen von Opfern von Gewalttaten, die meisten hätten keine formale Aus- oder Weiterbildung mit Blick auf häusliche Gewalt erhalten. Das führe oftmals zur Zurückhaltung, Patienten auf ihre Verletzungen anzusprechen. „Um diese Hemmungen abzubauen, wäre es sinnvoll, Rollenspiele, Kommunikations- und Simulationstrainings rund um das Thema häusliche Gewalt im Medizinstudium regelmäßig einzubauen. Das Studienhospital der Universität Münster bietet dazu optimale Lehr- und Lernbedingungen“, findet die 27-jährige Medizinerin und Wissenschaftlerin.

Verletzungen können auf häusliche Gewalt hinweisen

Verletzungen im Gesichtsbereich können auf häusliche Gewalt hinweisen. Charakteristische Verletzungen sind zum Beispiel Zahnabsplitterungen, der Riss des Oberlippenbändchens, Verletzungen der Oberlippe oder Kieferfrakturen. Zahnärzte sind häufig die Ersten – manchmal auch die Einzigen –, die die Betroffenen konsultieren. Zwar unterliegen sie einer gesetzlichen Schweigepflicht bei Verdacht auf Gewalttaten. Gleichwohl gebe es Möglichkeiten, aktiv zu werden. Die Zahnärztekammern und die kassenzahnärztlichen Vereinigungen Nordrhein und Westfalen-Lippe haben einen forensischen Befundbogen entwickelt, der zur fachgerechten und rechtssicheren Dokumentation gewaltbedingter Verletzungen verhilft (siehe unten).

Detaillierte Dokumentation mit forensischem Befundbogen wichtig

„Eine detaillierte Dokumentation kann für die Beweissicherung in einer Gerichtsverhandlung eine entscheidende Bedeutung haben“, betont Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer, die die Dissertation betreut hat und schon seit vielen Jahren Projekte und Seminare zum Thema häusliche Gewalt leitet. „Nichts tun sollte niemals eine Option sein.“

Zahnmedizin Teil eines neuen Forschungsprojekts

Die Forschungslücken, die durch die Dissertation von Jana Bregulla offengelegt wurden, gaben Anlass, die Zahnmedizin in ein neues europaweites Forschungsprojekt mit dem Titel „Victim Protection in Medicine“ (Opferschutz in der Medizin) aufzunehmen. In den kommenden drei Jahren entwickelt ein Forschungsteam unter der Leitung von Bettina Pfleiderer konkrete Lehrpläne, in denen der Umgang mit häuslicher Gewalt sowohl in die universitäre Lehre für angehende Human- und Zahnmediziner als auch in Fort- und Weiterbildungsprogramme für Ärzte und medizinisches Fachpersonal verankert wird.

EU-Projekt will Lehrpläne stärken

Das auf drei Jahre angesetzte Projekt „Victim Protection in Medicine“ (VIPROM) wird von der Europäischen Union mit 1,6 Millionen Euro gefördert. Partner aus Schweden, Österreich, Italien, Griechenland und Deutschland erarbeiten hier gemeinsam Ansätze, um das Thema in den Lehrplänen nachhaltig zu stärken. Koordiniert wird das Projekt von Prof. Bettina Pfleiderer, die das Projekt auch in großen Teilen konzipiert hat. „Statistisch treffen wir mindestens einmal am Tag auf Betroffene – oft sind wir dann die einzigen Ersthelfenden. Wenn wir versagen und die Gewaltsymptome nicht erkennen, lassen wir die Opfer allein“, so Pfleiderer.

Die Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster war Ende Februar 2023 Schauplatz für die Auftaktveranstaltung des internationalen Vorhabens, das auf den Vorgängerprojekten „IMPROVE“ und „IMPROVDA“ mit ihren Materialien und der Trainingsplattform aufbaut.

Literatur und weitere Informationen zum Thema

[1] Bregulla, JL, Hanisch, M, Pfleiderer B: Dentists’ Competence and Knowledge on Domestic Violence and How to Improve It—A Review. Int. J. Environ. Res. Public Health 2022, 19(7), 4361; Open Access, https://doi.org/10.3390/ijerph19074361

 

Das Hilfezeichen/Handzeichen häusliche Gewalt

Foto: MPSTUDIO/Shutterstock.com
Beschreibung bei Wikipedia: „Das Handzeichen wird ausgeführt, indem die Innenseite der Hand gezeigt wird, zunächst aber nur der Daumen in die Handfläche gelegt ist, während die übrigen Finger gestreckt sind und anschließend nach unten über den Daumen gelegt werden, so als hätten sie den Daumen in einer Falle gefangen.“

 

Quelle: WWU/Quintessence News Interdisziplinär Zahnmedizin Praxis med.dent.magazin Patientenkommunikation

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