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Von TI-Feldwegen, nicht interoperablen Datencontainern und Co. – die Politik hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht, meint Dr. Uwe Axel Richter

(c) Tero Vesalainen/Shutterstock.com

Seitdem der Bundesgesundheitsminister Anfang März in einer Pressekonferenz die neue Digitalisierungsstrategie samt zweier flankierender Gesetze verkündete, schwappt die Welle der digitalen Verheißungen mal wieder durch die Medien in deutschen Landen. Ob stationär oder ambulant, auf einen Nenner gebracht wird zukünftig alles – also nicht nur die Qualität der medizinischen, zahnmedizinischen und pharmazeutischen Versorgung – besser werden, sondern auch der Mittelverschwendung und den dadurch ausgelösten Kosten soll es nun endlich ganz wirklich und überhaupt an den Kragen gehen, auf das sie sinken werden. Halleluja!

Alter Wein in einem neuen Schläuchlein

Denn das Bundesgesundheitsministerium, kurz BMG, hat eine neue Strategie entwickelt. Und da klingen die alten Botschaften dank der zukünftig kommenden neuen digitalen Segnungen gleich viel besser. Vor allem deshalb, weil nun – entgegen aller in den vergangenen 20 Jahren gemachten Erfahrungen – die Zeitpläne zur Einführung der ambitionierten Projekte nochmals schneller werden sollen.

Worauf sich diese lautstark geäußerte Hoffnung gründet, ist allerdings noch nicht ausgemacht. Vielleicht darauf, dass die Gematik auf Bestreben des Gesundheitsministers alsbald zu 100 Prozent in staatlicher Hand sein wird? Da Lauterbach es angesichts seiner sich selbst widersprechenden Argumentationen offensichtlich auch nicht weiß, wie auf vorgenannter Pressekonferenz erneut augenfällig wurde, müssen mal wieder die immer gleichen Schuldigen dran glauben: Die von rudimentär bis mangelhaft funktionierende Digitalisierung des Gesundheitswesens liegt an den Leistungserbringern und deren Schwarzseherei.

Was nicht sein kann, ist auch nicht

In diesem Zusammenhang ist es jedoch von erheblicher Bedeutung, den kleinen, aber wesentlichen Unterschied zwischen der Digitalisierung „des“ und derjenigen „im“ Gesundheitswesen zu beachten.  Angesichts der öffentlichen Einlassungen des Ministers und seiner Ministerialbürokraten und -bürokratinnen mag man es nicht für möglich halten, dass „im“ deutschen Gesundheitswesen zwischen 97 und 100 Prozent der Praxen und Apotheken seit Jahren, um nicht zu sagen seit zwei Jahrzehnten bereits digitalisiert sind. Insbesondere die weit über Verwaltungsaufgaben hinausgehende Digitalisierung in den Zahnarztpraxen könnten für den Gesundheitsminister ein Augenöffner sein. Was offensichtlich nicht der einzige Grund für einen Zahnarztbesuch sein sollte.

Die Konstante der staatlichen Digitalisierungspolitik

Die Bezeichnung der Leistungserbringer als (digitale) Defätisten, von Prof. Dr. Karl Lauterbach in seiner Digitalisierungs-Pressekonferenz wortwörtlich und mehrfach so gesagt, ist in Anbetracht der digitalen Realität schlicht falsch. Richtig ist: Die Softwaresysteme in Praxen, Apotheken und Kliniken sind nur begrenzt interoperabel. Interoperabilität setzt nämlich voraus, dass Anforderungen und Notwendigkeiten allseits bekannt sein müssen. Am besten, bevor entwickelt wird. Und natürlich braucht es auch jemand, der die entsprechende Programmierung der Schnittstellen bezahlt. Aber wem sage ich das, das kennt jeder Niedergelassene.

So weit, so simpel. „Die“ Politik glaubt jedoch bis heute, das es reicht, eine Datenautobahn namens TI samt Konnektorhäuschen „hinzustellen“, und die Auf- und Abfahrten erst später, also nach Fertigstellung, bestimmen zu können. Um sich dann lautstark zu wundern, dass die staatlichen Digitalisierungsziele und Termine von Konnektoren bis E-Rezept permanent gerissen werden. Angesichts der zwanzigjährigen Geschichte der TI fragt man sich schon, worauf die Hybris im Bundesgesundheitsministerium und der langen Reihe der mehr oder minder in diesem Punkt fröhlich vor sich hin dilettierenden Gesundheitsminister basiert.

Avanti dilettanti

Was also bedeutet der Begriff Defätismus nun genau? Die aktuell bei Wikipedia veröffentlichte Definition lautet so: „Der Begriff Defätismus kann als Zustand der Mutlosigkeit oder Schwarzseherei beschrieben werden. Ursprünglich bezeichnete er die Überzeugung, dass keine Aussicht auf den Sieg besteht, und eine daraus resultierende starke Neigung zum Aufgeben.“

Stimmt das so, dann sind des Ministers diesbezügliche Einlassungen, man muss es so hart formulieren, nicht nur unverschämt, sondern auch noch das Gegenteil von schlau. Weil er dabei vergisst, dass es allein im ambulanten Bereich mehr als 200.000 Niedergelassene und Apotheker (ohne die Angestellten) gibt, „which keep the show going“.  Das sind diejenigen, welche die Versorgung trotz erheblicher finanzieller Restriktionen, Leistungslimitierungen und bürokratischem Overkill (schließlich wollen die Payer eine vollständige Kontrolle des Leistungsgeschehens) mit enormen Eigenengagement am Laufen halten. Und ihre Praxisdigitalisierung aus eigener Tasche bezahlen.

Zu früh aufgegeben?

Unterstellt, dass Lauterbach die Defätismus-Begrifflichkeit nicht aus Zufall wählte, dann wären Ärzte, Zahnärzte und Apotheker (ja, und auch die Kliniken) selbst schuld am finanziell maroden Zustand des Gesundheitswesens wie auch den (angeblichen) Qualitätsmängeln in der Patientenversorgung, da sie seit zwei Jahrzehnten gegen die Telematik-Infrastruktur opponieren, statt diese zu nutzen. Weil sie, so die Schlussfolgerung Lauterbachs, halt wegen der einen und anderen „Kinderkrankheit“ der TI zu früh aufgegeben haben. Wenn das die Überzeugung des Ministers und seiner Ministerialbürokratie ist, darf man sich ruhig fragen: Wo leben die Damen und Herren eigentlich?

Wer von den Ministerialen braucht schon eine eGK?

Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in der Welt der Privatversicherung, der extraterrestrischen Zone der TI. Was aber nun mal nicht für 90 Prozent der Bevölkerung zutrifft. Da muss man schon froh sein, wenn besagter Personenkreis beispielsweise von den technischen Problemen rund um die eGK und die Konnektoren gehört hat. Selbst erlebt haben werden sie diese nicht. Geschweige denn eine Ahnung von den GKV-Versorgungsrealitäten jenseits der Statistiken haben. Denn dann wüsste man auch, dass bei maximal drei bis fünf Minuten Konsultationszeit pro Patienten ein 30-minütiger Ausfall des Konnektors die gesamte Sprechstunde nicht nur durcheinanderbringt, sondern auch verlängert. Samt verärgerter Patienten.

Bis dato ist der Nutzen der bisherigen TI für die „Leistungserbringer“ trotz gegenteiliger politischer Beteuerungen nach wie vor marginal. Abgesehen von KIM und den „Eigenentwicklungen“ des besagten Personenkreises in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen und den Softwareherstellern. Ja, sowas gibt es tatsächlich, wie das Elektronische Beantragungs- und Genehmigungsverfahren (EBZ) in der zahnmedizinischen ZE-Versorgung beweist. Die Erkenntnis, dass erfolgreiche Digitalisierungen „im“ Gesundheitswesen möglich sind, würde also lauten: Die Absenz der Politik bei dieser Entwicklung weist der Politik den Weg aus der Misere.

Nutzen erzeugen nur die Verfahrensbeteiligten

Wenn ein Nutzen entstehen soll, müssen demnach alle Verfahrensbeteiligten (Leistungserbringer, Krankenkassen, Softwarehersteller) und die Patienten profitieren. Genau das ist der Fingerzeig auf die Problemlösung: Schritt für Schritt nutzenstiftende digitale Problemlösungen von den Verfahrensbeteiligten entwickeln. Es ist weder den Niedergelassenen noch den Kliniken anzulasten, wenn der gewünschte Datenaustausch nur bedingt funktioniert. Denn monolithische Softwaresysteme können aufgrund der – wenn überhaupt – begrenzt vorhandenen Interoperabilität keine Informationen „austauschen“. Und schon gar nicht über Sektorengrenzen hinweg. Dafür unterschieden sich die verwendeten Soft- und Hardwaresysteme zu sehr. Da hilft auch eine Datenautobahn namens TI wenig, allzumal diese über den Status eines Feldwegs nicht herausgekommen ist.

Datenmüll rein = Informationsmüll raus

Nun gut, wenn schon keine funktionierende Datenautobahn, könnte dann ein Datencontainer für jeden Patienten die Lösung sein? Für die Politik auf jeden Fall, denn Karl Lauterbach ist aktiv dabei, die ePA als das „Herz“ der zukünftigen Datenseligkeit und damit als Lösung zu verkaufen. Damit würde die Politik in Teilen auch das TI-Problem des nach wie vor mangelnden Datenaustauschs lösen.

Was Lauterbach nicht sagt, dass die die ePA als unstrukturierter, nicht interoperabler Datencontainer eben keine Lösung – beziehungsweise eine maximal schlechte – sein wird. Politisch sinnvoll ist das Ganze trotzdem, kann man doch so den Abschied von dem langjährigen Versprechen der Freiwilligkeit der digitalen Patientenakte kaschieren. Denn ab 2024, ein genaues Datum ist noch nicht bekannt, soll die ePA für die GKV-Versicherten mittels Opt-out zu einer Zwangsveranstaltung mutieren. Dass das kein einziges Problem der Anwendbarkeit im klinischen wie Praxisalltag löst, wird natürlich nicht gesagt. Kein Arzt – ob in Klinik oder Praxis – hat im eng getakteten Alltag die Zeit, den unstrukturierten Datenhaufen nach notwendiger Information zu durchsuchen, ohne Gefahr zu laufen, Relevantes zu übersehen. Die Juristen werden sich jedenfalls die Hände reiben.

Opt-out mit Kalkül

Halten wir also fest: Die Hausaufgaben für den staatlichen Wunsch nach Datenaustausch sind nach wie vor nicht gemacht. Da hilft es auch nicht, den unter langjährigen Mühen geborenen Medikationsplan als erste Anwendung für die ePA vorschreiben zu wollen. Auch wenn damit das Kalkül des BMG aufgehen sollte, die Zahl der Opt-out-Willigen so gering wie möglich zu halten, muss bis zur Fristsetzung klar sein, wie die Medikationsdaten automatisiert aktualisiert werden können.

Wer sich dazu an einen Tisch setzen muss, ist hinreichend klar: Leistungserbringer, Krankenkassen, Softwarehersteller, Datenschützer und Patienten. Dann wird hoffentlich endlich geklärt, wie weitgehend das versprochene Recht des Patienten auf informationelle Selbstbestimmung wahrgenommen werden kann. Was nutzt es, wenn Patienten suggeriert wird, dass die Daten beispielsweise einer psychischen Erkrankung in der eigenen Akte mangels Freigabe verborgen werden können, die entsprechenden Medikamente aber in dem Medikationsplan auftauchen?

Wo wir gerade bei dem Medikationsplan sind: Dieser ist ohne die seitens des Patienten verwendeten verschreibungsfreien Medikamente samt all der Nahrungsergänzungspräparate im Hinblick auf die versprochenen Medikationschecks (Kontraindikationen, Wechselwirkungen und Nebenwirkungen) unvollständig.

„Data lakes“ und KI

Aber solche Petitessen fechten Karl Lauterbach nicht an. Sein Ziel ist ja das große Ganze. Wie zum Beispiel die Verwendung der Krankendaten per Gesetz interessierten Gruppen, insbesondere aus der Wirtschaft, möglich zu machen. Da muss der Glaube an die künstliche Intelligenz schon groß sein, um sinnhaft in dem entstehenden riesigen Datenmeer fischen zu können. Aber vielleicht will er ja auch nur als der erfolgreichste Goldgräber in die Geschichte eingehen. Als derjenige, der den Datenschatz im Gesundheitswesen gehoben und vermarktet hat.

Wenn man da nicht defätistisch wird – wann dann?

Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf


Foto: Verena Galias
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.

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