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Prof. Dr. Michael J. Noack zum Impulspapier „Orale Medizin – Die Zukunft der Zahnmedizin“

„Der alles entscheidende Blickwinkel ist aber der unserer Patienten“, so Prof. Noack.

(c) Impact Photography/Shutterstock.com

Seit geraumer Zeit beschäftigt mich die Frage, in welche Richtung sich unser Berufsstand entwickeln sollte und welche Bezeichnung für uns angemessen und zukunftsfähig ist. Denn wir sind mehr als nur Zahnreparateure. Es ist jedoch nicht entscheidend, ob der Begriff uns oder anderen Medizinern gefällt, sondern ob er unseren Patienten gerecht wird.

Prof. Dr. Michael Noack
Prof. Dr. Michael Noack
Foto: Christian Altengarten
Die vorgeschlagene Bezeichnung „Orale Medizin“ ist zweifelsohne aus akademischer Sicht eine mögliche und treffende Beschreibung unserer Tätigkeit. Sie basiert im Wesentlichen auf Erkenntnissen über den Zusammenhang zwischen oralen und systemischen Erkrankungen. Interessanterweise fand das erste Symposium zu diesem Thema in Deutschland bereits im Jahr 2000 unter meiner Leitung an der Universität zu Köln statt. Seitdem verfolge ich die entsprechenden wissenschaftlichen Publikationen und Debatten intensiv.

Strukturpolitik und Kommunikation

Grundsätzlich teile ich nahezu alle Aspekte, die meine kompetenten Kolleginnen und Kollegen in dem Impulspapier „Orale Medizin – Die Zukunft der Zahnmedizin“ zusammengestellt haben, um die Bezeichnung „Orale Medizin“ für unser Berufsbild vorzuschlagen. Doch in strukturpolitischen Fragen und in der Kommunikation geht es oft nicht um richtig oder falsch, sondern darum, ob alle relevanten Aspekte bedacht wurden, wie man beinahe täglich in der Politik erleben kann.

Grafik: Quintessenz
Wohin geht die Reise für die Zahnmedizin? Das diskutieren die Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Praxis, Professionsforschung und Standespolitik in ihren Beiträgen im Impulspapier „Orale Medizin – Die Zukunft der Zahnmedizin“. Sie laden damit die Zahnärztinnen und Zahnärzte und die Dentalwelt dazu ein, die Thesen zu diskutieren und eigene Impulse einzubringen.

Wir dokumentieren die bei uns und auf den Social-Media-Kanälen des Quintessenz Verlags eingegangenen und für die Veröffentlichung freigegebenen Statements und Beiträge. Diskutieren Sie mit! Welcher Aspekt des Impulspapiers ist für Sie mit Blick auf die Zukunft der Zahnmedizin besonders stark? Welcher Aspekt fehlt Ihnen? Schreiben Sie uns an news@quintessenz.de unter dem Betreff „Impulspapier“. Die Statements  finden Sie in unserem Diskussionsblog.

Von Odds Ratio und Mikrotropfen

Im Jahr 2000 lud ich die Lehrstuhlinhaber der Kardiologie von verschiedenen Universitäten zu dem besagten Symposium ein. Leider verließen sie die Tagung nach der Kaffeepause. Warum? Auf mein Nachfragen antworteten die Internisten einstimmig: Mit Quotenverhältnissen von 1 – 1,5 (Odds Ratio) sind orale Erkrankungen höchstens der allerletzte Mikrotropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Damals war ich sehr enttäuscht. Nur zum Vergleich: Für Rauchen liegt das Quotenverhältnis mehr als neunmal höher! Damit sind Rauchen-Entwöhnungskurse für kardiovaskuläre Erkrankungen fast zehnmal wichtiger als die Behandlung oralmedizinischer Probleme.

Mittlerweile kann man in einer aktuellen und methodisch einwandfreien Übersicht aller Meta-Analysen nachlesen, dass die besagten Assoziationen zwischen Krankheiten der Mundhöhle und kardiovaskulären Erkrankungen des Körpers generell eher bescheiden bis nichtig sind.1 Die wenigen bisherigen Interventionsstudien haben entweder Surrogate-Variablen gemessen oder keinen Effekt gezeigt. Lediglich für Diabetes mellitus gibt es belastbare Fakten.

Was legitimiert die Daseinsberechtigung der Zahnmedizin?

Damit können wir weder unsere Daseinsberechtigung legitimieren noch die Bedürfnisse befriedigen, mit denen Patienten zu kommen. Was bleibt also für uns? Ja, an jedem Zahn hängt ein Mensch, aber der Beitrag der Mundhöhle zu schädlichen Fernwirkungen im Körper ist eher unbedeutend.

Und der Mensch hängt auch am Zahn. Das Leiden des Zahnschmerzes steht für fast alle oralen Erkrankungen aus Patientensicht im Vordergrund. Welche großen zahnerhaltenden Innovationen haben wir seit Axelsson und Lindhe2 in den vergangenen 20 Jahren entwickelt? Eigentlich fast nichts Dramatisches – außer der Veränderung des Ersatzes von Zahnkronen zu einem oralmedizinischen Ersatz der Zahnwurzeln in Form von Implantaten. Um erfolgreich Implantologie zu betreiben, bedarf es in der Tat oralchirurgischer Routinekompetenz. Aus diesem Blickwinkel wirkt der Begriff „Orale Medizin“ sinnvoll.

Aber ist dies wirklich unsere innovative Antwort auf das Risikoprofil unserer Patienten? Viele Krankheiten, einschließlich Karies, folgen einer sozialen Schichtung. Durch den Faktor Rauchen und Mundhygiene gilt dies eingeschränkt auch für Parodontitis. Orale Medizin müsste also eigentlich einfacher, weniger aufwendig und damit kostengünstiger sein, um den Herausforderungen von Gesellschaften mit Altersarmut gerecht zu werden.

Zwischen Sponsoring-Bias und Patientenwünschen

Dank eines immensen Sponsoring-Bias gab es beeindruckende Innovationen in der Implantologie. Wo sind jedoch vergleichbare Innovationen in der zahnerhaltenden Parodontologie seit den Arbeiten aus dem vergangenen Jahrhundert? Fragt man Patienten, was sie wollen, so steht die wörtlich gemeinte Zahnerhaltung im Vordergrund: Sie wollen keinen Zahnverlust.3 Ist es dann klug, den Begriff „Zahn“ aus dem Berufsbild zu streichen und künstliche Wurzeln mit oralchirurgischen Maßnahmen anzubieten? Für mich klingt diese Strategie wie ein Offenbarungseid.

Passt der ZahnMedizin das Korsett der medizinischen Codierung?

Zuletzt sollten wir den Gedanken einer „Oralen Medizin“ auch praktisch zu Ende denken. Aktuell werden wir in der Zahnheilkunde nach dem Prinzip der Einzelleistungsvergütung honoriert. Jeder Handgriff und jede „Med“ zählt. In der Medizin wird nach ICD-Diagnosen oder DRG-Diagnosegruppen bezahlt. Da bin ich mal gespannt, wie viele Keramikinlays noch für das Standardhonorar der Diagnose „kariöse Läsion mod“ unter medizinischen Honorarbedingungen gefertigt werden. Die etablierte medizinische Honorarlogik ist ein Anreiz für Unterversorgung, nach dem Motto: „Was ist die günstigste Versorgungform für ein bestimmte Diagnose“? Aus sozialpolitischer Sicht wird der Impuls, sich in Zukunft als Oralmediziner zu definieren, bestimmt dankend aufgenommen.

Der alles entscheidende Blickwinkel

Der alles entscheidende Blickwinkel ist aber der unserer Patienten. Wissenschaftlich betrachtet gilt es, eine people-centered Health Care zu praktizieren, bei der man sich danach richtet, was unsere Patienten unter gesunden Verhältnissen wünschen. Die FDI hat dazu die aktuelle Definition der Mundgesundheit4 geliefert: „Mundgesundheit ist ein vielschichtiger Begriff und umfasst die Fähigkeiten zu sprechen, zu lächeln, zu riechen, zu schmecken, zu berühren, zu kauen, zu schlucken und eine Reihe von Emotionen durch Mimik mit Selbstvertrauen und ohne Schmerz, Beschwerden und Erkrankungen der kraniofazialen Strukturen auszudrücken.“

Mit diesen Bedürfnissen kommen Patienten zu uns, um ihre Zähne und deren Verankerung in Ordnung bringen zu lassen – wer Herzprobleme hat, konsultiert den Kardiologen. Es ist erfreulich, dass wir nun auch Diabetes mellitus und kardiovaskuläre Risiken erkennen können. Doch letztlich möchten unsere Patienten ihre lockeren Zähne festigen und dauerhaft erhalten.

Zentrale Patientenbedürfnisse in der Forschung vernachlässig

Fazit: Wir haben die zentralen Patientenbedürfnisse in der Forschung in den vergangenen Jahren vernachlässigt und uns stattdessen darauf konzentriert, unsere Relevanz innerhalb der medizinischen Disziplinen zu betonen. Dabei erfahren wir im praktischen Alltag alle, wie viel Anerkennung wir erhalten, wenn wir „Zahnschäden“ rekonstruieren – wobei auch die parodontale Gesundheit eine entscheidende Rolle für die Zahnerhaltung spielt.
Wird der Begriff „Orale Medizin“ dazu führen, dass wir die von unseren Patientinnen und Patienten gewünschte Kernkompetenz „Zahnerhaltung“ in Verbindung mit Maßnahmen zur Förderung des Wohlbefindens endlich wieder in den Mittelpunkt stellen? Leider ist es sehr fraglich, ob dies zu einer optimierten, intuitiv erfassbaren Arzt-Patienten-Kommunikation führen wird.

Oder einfach gesagt: Wir brauchen kein zusätzliches Marketing, das suggeriert, dass das Herz nach einer PAR-Behandlung besser schlägt. Die Patienten sind bereits hochzufrieden, wenn sie weiterhin im selben Raum wie ihre Zähne schlafen können – im Idealfall bis zum Lebensende.

Prof. Dr. med. dent. Michael Noack, Köln


Literatur
[1] Schoenmakers MGP, Weijdijk LPM, Willems EJS, Weijden FGAvd, Slot DE. The association of periodontitis with cardiovascular disease parameters - a synthesis of systematic reviews-. Int J Dent Hyg 2024 in Press. 2024.
[2] Axelsson P, Nystrom B, Lindhe J. The long-term effect of a plaque control program on tooth mortality, caries and periodontal disease in adults. Results after 30 years of maintenance. J Clin Periodontol. 2004;31(9):749-57.
[3] Vennedey V, Derman SH, Hiligsmann M, Civello D, Schwalm A, Seidl A, Scheibler F, Stock S, Noack MJ, Danner M. Patients' preferences in periodontal disease treatment elicited alongside an IQWiG benefit assessment: a feasibility study. Patient Prefer Adherence. 2018; 12:2437-47.
[4] Glick M, Williams DM, Kleinman DV, Vujicic M, Watt RG, Weyant RJ. A new definition for oral health developed by the FDI World Dental Federation opens the door to a universal definition of oral health. J Am Dent Assoc. 2016;147(12):915-7.

 

Quelle: Quintessence News Zahnmedizin med.dent.magazin Politik Aus dem Verlag

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