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Die anatomischen Besonderheiten der Milchzähne bedingen ein anderes endodontisches Konzept als bleibende Zähne

Frühkindliche Karies bei einem dreijährigen Patienten.

Bei dem Auftreten kariöser Läsionen im Milchgebiss gehören neben der restaurativen Versorgung der betroffenen Zähne auch endodontische Maßnahmen zu den möglichen anfallenden Aufgaben des Behandlers, um einen Zahnerhalt zu gewährleisten. Die Vitalamputation ist dabei die gebräuchlichste Therapieoption für das Milchgebiss. Der Beitrag von Prof. Katrin Bekes für die Quintessenz Zahnmedizin 7/21 soll einen Einblick in die Morphologie und die Diagnostik von Pulpazuständen bei Milchzähnen geben und speziell für die Vitalamputation deren Indikation und Grenzen sowie das detaillierte Vorgehen beleuchten.

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Globales Problem „Early childhood caries“

Abb. 1 Frühkindliche Karies bei einem 3-jährigen Patienten.
Abb. 1 Frühkindliche Karies bei einem 3-jährigen Patienten.
Bekes/ Boukhobza
Die Karies im Kindesalter stellt nach wie vor ein globales Problem dar3. Kassebaum et al. bezifferten das weltweite Auftreten von Milchzahnkaries 2015 mit 7,8 Prozent und errechneten eine Inzidenz nichtbehandelter Milchzähne von 573 Mio.16 Insbesondere die frühkindliche Karies („Early childhood caries“, ECC) nimmt hier eine Sonderstellung ein. Es handelt sich hierbei per Definition um das Vorliegen von mindestens einer kariösen Läsion (mit oder ohne Kavitation) beziehungsweise einer wegen Karies fehlenden oder gefüllten Zahnfläche im Milchgebiss des Kindes unter 6 Jahren1 (Abb. 1). Eine ausgeprägte, schwere Form der frühkindlichen Karies, die „Severe early childhood caries“ (S-ECC), kann diagnostiziert werden, wenn Kleinkinder unter drei Jahren bereits mindestens eine Glattflächenkaries aufweisen. Risikofaktoren sind ein niedriger Sozialstatus und Bildungsgrad der Eltern, Migrationshintergrund, die frequente Verabreichung zuckerhaltiger Getränke mit der Saugerflasche – insbesondere in der Nacht – sowie eine unzureichende Mund- und Zahnpflege ab dem ersten Zahn7.

Die weltweite Prävalenz der ECC schwankt zwischen 1 bis 12 Prozent in den Industrienationen und liegt bei 70 Prozent in den Entwicklungsländern beziehungsweise benachteiligten Bevölkerungsgruppen entwickelter Länder3. Obwohl Deutschland in der Breite der zahnmedizinischen Versorgung insgesamt einen hohen Versorgungsgrad erreicht hat, ist auch hier diese Form der Karies unverändert als ein ernsthaftes und ungelöstes Versorgungsproblem einzustufen. In Deutschland liegt die durchschnittliche Prävalenz bei 13,7 Prozent, unter Einbeziehung der Initialläsionen sogar zwischen 14,4 bis 24,6 Prozent bei den Dreijährigen8.

Milchzahnerhalt durch Endodontie

Der Erhalt kariös betroffener Milchzähne bis zur regulären Exfoliation ist für eine reguläre Entwicklung der Dentition von großer Bedeutung12. Die Dentes decidui erfüllen wichtige Funktionen: Sie dienen nicht nur als Platzhalter für die nachfolgenden bleibenden Zähne, sondern sind ebenfalls bedeutend für das Kauen, die Sprachentwicklung sowie für ein psychisch gesundes Heranwachsen. Folglich sollten Milchzähne so lange wie möglich, bestenfalls bis zur natürlichen Exfoliation erhalten werden.

Restaurative und endodontische Maßnahmen bieten eine Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen. Angesichts der relativ kurzen Funktionsperiode des Milchgebisses sollte dabei jedoch die Absicht verfolgt werden, einen kariösen Milchzahn möglichst nur ein einziges Mal bis zur natürlichen Exfoliation zu versorgen.

Für das Milchgebiss sind dabei verschiedene endodontische Therapieverfahren denkbar. Dazu zählen: die Caries-profunda-Therapie, die direkte Überkappung, die Vitalamputation beziehungsweise Pulpotomie oder die Pulpektomie mit anschließender Wurzelbehandlung. Die ersten drei genannten Varianten werden dabei zu den vitalerhaltenden Therapieoptionen gezählt. Der Fokus dieses Artikels soll auf der Vitalamputation liegen.

Morphologische Besonderheiten der Milchzähne

Die Zähne der ersten Dentition weisen im Vergleich zu den Zähnen der zweiten Dentition makro- und mikromorphologische Besonderheiten auf. Zunächst einmal sind sie in ihren Dimensionen kleiner und zeigen dabei im Vergleich zu ihren Nachfolgern eine geringere Schmelz- und Dentindicke15 (Abb. 2a und b). Dabei misst der Schmelzmantel an keiner Stelle mehr als 1 mm21. Dies hat zur Konsequenz, dass die Karies im Milchgebiss viel schneller voranschreiten kann als im bleibenden Gebiss. Weiterhin stellt sich die Ausdehnung der Kronenpulpa im Vergleich zu den bleibenden Zähnen deutlich größer dar15, die Pulpenhörner können weit in die Höcker hineinreichen.

Milchzähne sind zudem durch eine geringere Mineralisation ihres Schmelzes und ihres Dentins gekennzeichnet. Im Dentin ist der Durchmesser der Dentintubuli größer und das peritubuläre Dentin deutlich ausgeprägter. Zusätzlich findet sich eine sehr viel höhere Dichte der Tubuli, die in den pulpanahen Bereichen ansteigt18. Auch diese Gegebenheiten ermöglichen ein rascheres Fortschreiten kariogener Prozesse im Milchzahndentin.

Mit zunehmendem Alter des Kindes beginnen die Wurzeln der Milchzähne physiologisch zu resorbieren. Ab diesem Zeitpunkt lässt die Abwehrkraft der Pulpa nach, sodass die Reaktionsfähigkeit der Milchzahnpulpa auf äußere Reize geringer ist und reparative Prozesse langsamer verlaufen oder gar nicht mehr stattfinden. Dies hat zur Folge, dass die entzündete Pulpa nicht mit Schmerzsensationen reagiert und der tatsächliche Pulpazustand sowohl für das Kind als auch seine Eltern sowie für den Zahnarzt im Verborgenen bleibt.

Diagnostik des Pulpazustands am Milchzahn

Die oben dargestellten Besonderheiten der Milchzähne machen deutlich, dass sorgfältige Diagnostik und Behandlungsplanung unabdingbar sind13. Hier gilt es, zum einen den Stellenwert des zu behandelnden Milchzahns in der gesamten Gebissentwicklung zu betrachten und zum anderen dessen Pulpazustand zu bewerten.

Erste wichtige und wertvolle Informationen kann die anamnestische Befragung der Eltern und des Kindes mit Angaben zur Schmerzlokalisation und -dauer liefern. Dabei weisen beobachtete Nachtschmerzen sowie Schmerzen beim Abbeißen oder Kauen sowie die notwendige Einnahme von Analgetika auf eine signifikante Pulpaentzündung und -pathologie hin22. Die klinische Untersuchung ergänzt die präoperative Diagnostik. Hier stehen die Detektion einer eventuell vorhandenen Perkussions- und Druckempfindlichkeit sowie die Existenz von Rötungen der Gingiva, Schwellungen oder Fisteln in der Umgebung kariöser Milchzähne im Vordergrund22. Der bei Erwachsenen verwendete Sensibilitätstest ist im Kindesalter als weniger zuverlässig zu werten. Erst bei Schulkindern liefert dieser in der Regel verwertbare Ergebnisse25.

Neben der klinischen Untersuchung ist das Anfertigen von Röntgenaufnahmen in Erweiterung der Diagnostik unabdingbar. Das Röntgenbild liefert wichtige Informationen über das Ausmaß der Ka­ries, die eventuelle Nähe großer Restaurationen zu einem Pulpahorn, das Vorhandensein einer periradikulären Pathologie, den Grad der pathologischen oder physiologischen Wurzelresorption und das Vorhandensein des permanenten Nachfolgers22,25.

Vitalamputation beziehungsweise Pulpotomie

Im Milchgebiss zählt die Vitalamputation beziehungsweise Pulpotomie zum meistetablierten endodontischen Verfahren bei Vorliegen einer Karies mit Pulpabeteiligung. Dies liegt darin begründet, dass aufgrund der schnellen Progression der Milchzahnkaries nicht immer die Exkavation des kariösen Dentins ohne Exposition der Pulpa gelingt. Das Ziel dieser endodontischen Maßnahme ist es, die radikuläre Pulpa vital zu erhalten. Neben dem kariös erweichten Dentin werden somit auch Teile der Pulpa, nämlich deren koronalen Anteile, die irreversibel entzündet sind, entfernt. Die radikulären und vermutlich nicht erkrankten Pulpaanteile werden belassen.

Indikationen

Generell ist die Vitalamputation bei Eröffnung einer klinisch symptomlosen Milchzahnpulpa das Therapiemittel der Wahl17,22. Bei pathologischen Zeichen in Form von Schwellungen, Fisteln, erhöhter Mobilität des Zahnes, Wurzelresorptionen von mehr als einem Drittel der Wurzellänge, röntgenologischen Aufhellungen, zum Beispiel periapikale Entzündungen und pathologische Resorptionen, oder Spontanschmerz ist sie kontraindiziert17.

Weitere zahnbezogene und auch allgemeine Faktoren entscheiden ebenfalls über die Durchführung oder die Grenzen der Vitalamputation17,25. Berücksichtigt werden müssen dabei der generelle Umfang der Gebisszerstörung und der Behandlungsaufwand, die Wertigkeit des behandlungsbedürftigen Zahns in Bezug zur Gebissentwicklung und die Restaurierbarkeit des Zahns. Zudem spielen die allgemeinmedizinische Anamnese des Kindes, sein Alter, seine Kooperations- und Behandlungsfähigkeit sowie die damit verbundene generell gewählte Behandlungsstrategie hinsichtlich Lokalanästhesie, Sedierung und Intubationsnarkose eine Rolle bei der Planung.

Verfahren

Eher von theoretischer Bedeutung ist die Einteilung einer Vitalamputation nach der Höhe ihrer Amputationsstelle. Zu unterscheiden ist die partielle, vollständige oder hohe beziehungsweise zervikale Pulpotomie22. Aus praktischer Sicht ist dieser Ansatz ohne Belang, da alle drei Verfahren das gleiche genannte Ziel verfolgen: den Erhalt der radikulären Pulpa.

Von klinischer Relevanz ist vielmehr eine möglichst atraumatische Amputation der Kronenpulpa, eine optimale Blutstillung und die Applikation eines biokompatiblen Wundverbands mit nachfolgendem bakteriendichtem Verschluss der Amputationsstelle, um den Erfolg dieses Therapieansatzes sicherzustellen.

Vorgehen

Eine Vitalamputation sollte vorab gut geplant sein (Abb. 3a und b). Nach Gabe der Lokalanästhesie wird unter absoluter Trockenlegung mit Kofferdam22 (Abb. 3c) die Karies vollständig entfernt und das Pulpakammerdach abgetragen (Abb. 3d). Bei Exposition der Pulpa kommt es zu einer Blutung, deren Farbe bereits einen ersten Hinweis auf eine mögliche Blutstillung gibt. So zeigt eine Amputation von gesundem Pulpagewebe eher eine geringere Blutung. Als nächstes wird das koronale Pulpagewebe entfernt. Dafür eignen sich diamantierte Schleifinstrumente, um ein hochtouriges Abtrennen unter Kühlung zu ermöglichen2,17,22. Handinstrumente sowie niedrigtourige Rosenbohrer hingegen hinterlassen Riss-Quetsch-Wunden, sodass dieses Vorgehen nicht zu empfehlen ist.

Zur Blutstillung der radikulären Pulpastümpfe wird die kurzzeitige Applikation (15 bis 30 Sek.) von Eisen-III-Sulfat empfohlen17 (Abb. 3e). Steht die Blutung nicht, ist eine nochmalige Wiederholung möglich und notwendig (Abb. 3f). Sollte danach immer noch keine adäquate Blutstillung eingetreten sein, so ist von einer doch weitreichenderen Entzündung des radikulären Restgewebes auszugehen als zunächst angenommen. Ab diesem Zeitpunkt ist die Fortführung der Vitalamputation kontraindiziert. Als Alternative kommen nun nur eine Pulpektomie oder sogar die Extraktion in Betracht, da die Ausbildung eines Blutkoagulums an der Amputationsstelle negative Auswirkungen auf den Therapieerfolg haben würde. Solch ein Blutkoagulum kann die Entwicklung einer Entzündungsreaktion begünstigen, die Ausbildung einer Hartgewebebrücke verhindern und interne Resorptionsprozesse bis hin zu einer Pulpanekrose fördern.

War die Blutstillung jedoch erfolgreich, so können in dem nun folgenden Schritt die radikulären Pulpastümpfe versorgt und mit einem Medikament abgedeckt werden (Abb. 3g bis i). Vorab sollte hier eine vorsichtige Reinigung des Pulpakavums von Blut und Geweberesten mittels Spülung mit Wasser oder Ringerlösung erfolgen. Dies gewährleistet, dass eine amputierte Wurzelpulpaoberfläche aus einer nichttraumatisierten und intakten Gewebefläche vorliegt, welche frei von Fremdkeimen ist. Das zu wählende Überkappungsmaterial für das amputierte Gewebe sollte dann reaktionsneutral, besser noch heilungsfördernd sein. Eine gewisse Bakterizidie ist dabei gewünscht, um Fremdkeime am Wachstum zu hindern. Unter diesen Bedingungen kann der Wundverband die Restpulpa zu strukturiertem Wachstum des Odontoblastensaumes anregen, wodurch Hartgewebebrücken gebildet werden. Im nachfolgenden Abschnitt werden die verschiedenen, hierfür zur Verfügung stehenden Materialien beleuchtet und deren Vor- und Nachteile diskutiert.

Nach Applikation des Wundverbands erfolgt der Verschluss der Kavität (Abb. 3j bis l). Dieser sollte zum einen definitiv, also nichtprovisorisch und zum anderen bakteriendicht sein. Konfektionierte Stahlkronen eignen sich dabei aufgrund ihrer einfachen Applikationsweise, ihrer Dichtigkeit und der guten Prognose hervorragend zur Versorgung dieser Milchzähne im Seitenzahnbereich. Die Abbildungen 3a bis l zeigen ex­emplarisch das Vorgehen einer Pulpotomie an einem unteren zweiten Milchmolaren mit nachfolgender Versorgung mit einer konfektionierten Stahlkrone.

Materialien

Formocresol

Seit der Einführung von Formocresol vor knapp 90 Jahren ist dieses Material nicht nur das am meisten verwendete, sondern auch sicherlich mittlerweile das am häufigsten diskutierte für die Vitalamputation im Milchgebiss. Das Erreichen einer klinischen Symptomlosigkeit von 80 bis 100 Prozent galt lange Jahre als wesentlicher Grund, diesem Material den Vorzug in seiner Verwendung zu geben. Seit Längerem werden jedoch Bedenken hinsichtlich seiner Verwendung beim Menschen diskutiert, da in Tier- und Laboruntersuchungen zytotoxische, mutagene, allergene, kanzerogene und genotoxische Veränderungen nach einer Formaldehydexposition gut dokumentiert werden konnten. Vor knapp 20 Jahren, im Jahr 2004, klassifizierte die „International Agency for Research on Cancer“ (IARC) Formaldehyd als karzinogen für den Menschen. Nach heutigen Behandlungsstandards wird die Verwendung aldehyd- beziehungsweise glutaraldehyd- oder formocresolhaltiger Präparate für die Vitalamputation aufgrund der beschriebenen Eigenschaften nicht mehr zum Einsatz empfohlen17.

Kalziumhydroxidhaltige Präparate

Kalziumhydroxid (CaOH2) wird in Mitteleuropa und Skandinavien häufig als das Medikament der Wahl für die Behandlung von exponiertem Pulpagewebe propagiert17. Es weist in wässriger Suspension einen hohen pH-Wert von 12 auf. Die Verbindung wirkt bakterizid, kann bakterielle Säuren sowie Lipopolysaccharide im Dentin neutralisieren und führt zudem zur Freisetzung von im Dentin gebundenen Wachstumsfaktoren10. CaOH2 unterstützt somit die Bildung einer Hartgewebebarriere und die Ausheilung der Pulpa9.

Nachteilig ist, dass mit CaOH2 überkappte Zähne häufig unphysiologische Resorptionserscheinungen zeigen, vor allem wenn bereits Entzündungszellen in der Wurzelpulpa angesiedelt waren. Zudem kann es zur Ausbildung von Porositäten im Reparaturdentin kommen – zu sogenannten Tunneldefekten.

Somit sind eine gute klinische Diagnostik und eine strenge Indikationsstellung mit Reduktion auf eine Amputation bei möglichst gesunder Pulpa von herausragender Bedeutung. Nur unter diesen Umständen können die besten Ergebnisse erwartet werden und CaOH2 induziert im Idealfall die Bildung von Hartgewebebrücken unter einer ätznekrotischen, verflüssigten Zwischenschicht. Studien haben gezeigt, dass bei Einhaltung der genannten Kriterien bei CaOH2-Pulpotomien mit Erfolgsraten von mehr als 80 Prozent zu rechnen ist.

Zinkoxid-Eugenol-Zemente

Im angloamerikanischen Raum wird die Anwendung von Zinkoxid-Eugenol-Zementen zur Abdeckung der Amputationswunde empfohlen und ist dort weit verbreitet2. Eugenol hat in geringen Konzentrationen eine antiinflammatorische und schmerzlindernde Wir­kung, in höherer Konzentration kann es zytotoxisch wirken. Studien am histologischen Präparat konnten zeigen, dass es unterhalb des Zinkoxid-Eugenol-Zements nicht zu einer Hartgewebeneubildung kommt, sondern zu einer persistierenden chronischen Entzündung.

Mineral Trioxid Aggregat (MTA)

Hydraulische Kalziumsilikatzemente in Form des Mine­ral Trioxid Aggregat (MTA) wurden erstmals Anfang der 90er-Jahre in der Zahnheilkunde eingesetzt. Diese Zemente sind werkstoffkundlich ähnlich den aus der Bauindustrie bekannten Portlandzementen. Sie werden als „hydraulisch“ bezeichnet, da sie sowohl an der Luft als auch unter Wasser erhärten und beständig sind5. Zunächst fand MTA seine Anwendung als api­kales Verschlussmaterial bei chirurgisch-endodon­tischen Therapien. Heute wird es in der Kinderzahnheilkunde ebenfalls bei der direkten Pulpa­überkappung oder der Apexifikation an un­reifen bleibenden Zähnen genutzt.

MTA besteht zu einem Großteil aus modifiziertem, stark erhitztem und fein gemahlenem Portlandzement. Im Herstellungsprozess werden außerdem Gips, der das Abbindeverhalten beeinflusst, und Wismutoxid zur Erzielung eines guten Röntgenkontrastes beigemischt, sodass ein aus feinen Partikeln bestehender hydrophiler Zement entsteht20. In seiner Gesamtheit enthält MTA zu ungefähr 50 bis 75 Gewichtsprozent Kalziumoxid und zu 15 bis 25 Gewichtsprozent Siliziumdioxid.
In der Verarbeitung wird das dargereichte Pulver mit sterilem Wasser angemischt. Der Abbinde­prozess ist vom gewählten Produkt abhängig. Ausgehärtetes MTA kann prinzipiell als in eine Silikatmatrix eingebettetes CaOH2 verstanden werden. Im Kontakt zu vitalem Gewebe werden die angrenzenden Zellen und Proteine denaturiert. Der sinkende pH-Wert des Materials führt zu einem Abklingen entzündlicher Reaktionen. Hierdurch wird die Fibro­blastenaktivität stimuliert, welche ihrerseits die Hartsubstanzbildung unterstützt. Die Dentinbildung erfolgt unter einer Nekrosezone.
Positive Eigenschaften von MTA sind dessen Biokom­patibilität und die Möglichkeit, in Gegenwart von Feuchtigkeit abzubinden und nach seiner Aushärtung ein gutes Abdichtungsvermögen und somit eine Randdichtigkeit gegenüber bakterieller Invasion aufzuweisen24. Vor einigen Jahren sprach noch der durchgehend hohe Preis dieser Produkte gegen ihren Einsatz insbe­sondere in der Kinderzahnheilkunde. In der Zwischenzeit ist dieser aber deutlich durch die Verfügbarkeit weiterer Präparate gesunken.

Nichtmedikamentöse Vitalamputationsverfahren

Zu den nichtmedikamentösen Verfahren der Vitalamputation gehören die Laser- und Elektrochirurgie. Sie werden vor allem hinsichtlich ihrer hämostatischen Wirkung als potenzielle Alternativmethoden in Betracht gezogen. Allerdings haben beide Verfahren den Nachteil, dass die Amputationswunde mit einer thermisch nekrotisierten Gewebeschicht bedeckt wird und sich unter der Nekrose noch irreversibel entzündetes Gewebe befinden kann22. Zu beiden Verfahren gibt es vergleichsweise wenig Studien beziehungsweise Langzeitergebnisse. Zudem konnten methodenspezifische Parameter wie Stromstärke, Wellenlänge, Energiedichte, Expositionszeit und thermische Nebenwirkungen bislang nicht geklärt werden. Die Techniksensibilität und der hohe Kostenauf-wand sind der routinemäßigen Anwendung ebenfalls nicht dienlich.

Erfolgsquoten

Für die Pulpotomie am Milchzahn finden sich in der Literatur teilweise kontroverse Ergebnisse hinsichtlich der Erfolgsraten. Entscheidende Faktoren sind hierbei der verwendete Wundverband und die Dauer der Beobachtungszeit. Für CaOH2 werden hierbei Erfolgsquoten von weniger als 50 bis über 80 Prozent angegeben11,14,19,26. Der aktuellste Cochrane-Review konnte darlegen, dass MTA gegenüber CaOH2 nach 12 und 24 Monaten Beobachtung statistisch bessere klinisch-radiologische Ergebnisse liefert. Allerdings ist das Evidenzniveau aufgrund zu wenig verfügbarer randomisierter klinischer Studien nach wie vor als schwach einzustufen23. Die Erfolgsquoten von MTA bewegen sich derzeit zwischen 94 und 100 Prozent4,19,23.
Ein 2020 veröffentlichter, weiterer systematischer Review stützt diese Aussage6. Die Autoren kommen ebenfalls zu dem Schluss, dass MTA das Material der Wahl zu sein scheint und im Vergleich zu CaOH2 bessere klinische Ergebnisse liefert. Vielversprechende Ergebnisse zeigen zudem die jüngst auf den Markt gekommenen kalziumsilikatbasierten Zemente. Hier müssen allerdings noch weitere randomisierte klinische Studien mit adäquaten Stichprobengrößen und langen Nachbeobachtungszeiten folgen, um diese Ergebnisse zu unterstützen.

Fazit

Die Vitalamputation nimmt innerhalb der Behandlung kariöser Läsionen im Milchgebiss einen nach wie vor hohen Stellenwert ein. Neben einer genauen Indikationsstellung mittels Röntgenbild und der Analyse des bisherigen Krankheitsverlaufs sind die richtige Amputationstechnik, die Blutstillung sowie die Wahl eines möglichst biologischen Deckungsmaterials von entscheidender Bedeutung.

Ein Beitrag von Prof. Dr. Katrin Bekes, Wien

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Quintessenz Zahnmedizin 07/21 Zahnmedizin

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